Schuld und Söhne
- Bülent Erdogan
- 6. Okt. 2018
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 31. Dez. 2018
Mein lieber Kupferjunge, auch du hast nach offizieller bundesrepublikanischer Lesart einen Migrationshintergrund. Da beißt die Maus keinen Faden ab, die BRD ist dann eben doch Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches.

Einmal habe ich dich beim Windelwechsel angeraunzt. Du hattest das linke Strumpfbein, das ich in automatisierter und doch mühseliger Ziselsarbeit mehr schlecht als recht übergestülpt hatte, mit einer kurzen Bewegung, wie Babys sie instinktiv drauf haben, wieder abgestreift, während ich leicht bewegungslegasthenisch dabei war, den rechten Strumpfwiderstand zu brechen. Also, noch einmal von vorn, das Ganze. Ich nahm die Situation für etwa zwei Sekunden ungerührt hin, ehe aus meinem Inneren ein laut vernehmbares "Nein!" in die Welt drängte und ich dich verärgert anblickte. Es war kein richtiger Schrei, aber immerhin noch so laut, dass du augenblicklich in mein Gesicht starrtest und sofort anfingst zu weinen. Wenn ich ehrlich bin, war es doch ein Schrei, etwas getempert, aber immer noch ein lautes Meckern. Was habe ich mich in dem Moment erst über mich selbst gewundert, dann geärgert und Sekundenbruchteile später abgrundtief geschämt. Wegen weniger als einer Lappalie hatte der Automat in mir die Contenance verloren und war das jähzornige Kind war zum Vorschein gekommen.
Gibt es etwas Einfacheres als "Nein" zu brüllen?
Selbst dieses im Übersprung gemeckerte, so einfache "Nein!" habe ich nicht auf Türkisch gesagt. Ich habe nicht "Hayir! (Nein!)", "Yok! (Datjibbetnich!)", "Yapma! (Machdasnich!)", "Yahu! (Männsch!)" oder "Bok! (Soeinscheiß!)" gesagt.
Ich sah plötzlich in das Gesicht eines Kindes, das ich so noch nicht gekannt hatte. Du hast geweint. Mehr als die übliche eine Atemroutine mit anschließendem singulären Hochtonschrei, mit der du dich sonst ausdrücktest. Ich hatte den ganzen restlichen Abend über die bange Frage im Kopf, ob du mich wieder so vertraut anschauen würdest wie vor diesem Fehlverhalten. Du hast zum Glück ein Einsehen gehabt und es deinem verzweifelten Vater, der dich sofort mit Küssen und Knuddeleien eindeckte, einfach gemacht, sich nicht mehr wie ein Unmensch zu fühlen.
Selbst dieses im Übersprung gemeckerte, so einfache "Nein!" habe ich nicht auf Türkisch gesagt. Ich habe nicht "Hayir! (Nein!)", "Yok! (Datjibbetnich!)", "Yapma! (Machdasnich!)", "Yahu! (Männsch!)" oder "Bok! (Soeinscheiß!)" gesagt. Gibt es etwas Einfacheres als "Nein" zu brüllen? Das Wort, dass du nach Mama und Papa wohl als drittes Wort aussprechen wirst und auf das ich mich schon heute freue? Denn wir wollen dich als freien Menschen aufwachsen sehen.
Auch die Sorgen und Ängste, die in dunklen Stunden gescribbleten Horrorbilder des aus meinen Armen fallenden Kindes, all die Gedanken, die sich um dich und dein Wohlergehen drehen in einer verrückt gewordenen Welt, artikuliere ich vor meinem geistigen Auge auf Deutsch und nicht in türkischer Sprache. Da die Ängste der Kinder in der Regel die übertragenen Ängste der Eltern sind, möchte ich es an dieser Stelle mit diesem kurzen Hinweis belassen und dich nicht mit irrationalen Verlustgefühlen belasten.
Auch du hast nach offizieller bundesrepublikanischer Lesart einen Migrationshintergrund. Da beißt die Maus keinen Faden ab, die BRD ist dann eben doch Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches. Du bist zwar das Kind einer als volldeutsch anerkannten Mutter. Wenn man ehrlich ist, hat sie schon etwas von einer rassigen Französin oder stolzen Polin. Aber der Adler mit dem leichten Rechtsdrall begleitet sie seit ihrer Geburt. Dein Papa wiederum, der wohl deutscheste Türke aller Zeiten der alten Bundesrepublik ist im Weltmeisterjahr 1974 als "Kümmeltürke" (Gott habe Addi Furler selig!) geboren worden. Kurz vor meinem 24. Geburtstag wurde ich schlussendlich zum Germanen konvertiert durch Aufnahme in die deutsche Fauna, also durch Transformation in einen Papiertiger.
Zum Glück musste ich im Kreishaus der Erft-Metropole Bergheim die Hymne nicht vortragen, sie hätte mich an den traumatischen Sommer von 1985 erinnert. Damals wechselte ich von der Grundschule auf das Gymnasium. In den Sommerferien erging sich ein schon etwas älterer Junge unserer Straße in Horror-Storys über die zu absolvierenden Aufnahmerituale am Schulzentrum. Der Komplex aus Hauptschule, Realschule und Gymnasium, Anfang der 1970er-Jahre auf einem ehemaligen Zwangsarbeiter-Areal errichtet, war nur einige Jahre zuvor in die Schlagzeilen geraten. Schüler seien mit Baseballschlägern aufeinander losgegangen. Die Sportgeräte seien dabei nur zufällig mit Nägeln verziert gewesen.
Eine dieser Erzählungen, die mir also zu Ohren kam, lautete, dass jeder Fünftklässler von einer Mauer drei Meter in die Tiefe zu springen habe. Für einen Zeitgenossen wie mich, der als Kindergartenjunge auf allen Vieren über Bordsteine geklettert war, ein wenig erbaulicher Gedanke. Die andere Geschichte war ebenso wenig dazu geeignet, die Vorfreude zu steigern: Wer die Nationalhymne nicht korrekt singen könne, also alle drei Strophen, dem würden die bösen Jungs mit ihren Zigaretten was auf den Pelz brennen. Das waren ja tolle Aussichten. Von der Maas bis an die Memel? Da hatten einige Pennäler ordentlich einen an der Murmel. Alles stellte sich letztlich als Räuberpistole heraus und ich kam ohne Blessuren durch das fünfte Schuljahr.
Für immer Türkenjunge
Da kann man wohl nichts machen. Du bist also ein Halb-Türke, der kein Türkisch kann. Millionen Menschen werden weiter stigmatisiert als nicht wirklich zugehörig.
Das Statistische Bundesamt in der Beamtenstadt Wiesbaden hat dich wie folgt schubladenisiert: "Eine Person hat einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzt."
Die Definition, so heißt es im ulkigen Behördendeutsch fürderhin, umfasst im Einzelnen folgende Personen:
1. zugewanderte und nicht zugewanderte Ausländer;
2. zugewanderte und nicht zugewanderte Eingebürgerte;
3. (Spät-)Aussiedler;
4. mit deutscher Staatsangehörigkeit geborene Nachkommen der drei zuvor genannten Gruppen.
Da kann man wohl nichts machen. Du bist also ein Halb-Türke, der kein Türkisch kann. Im Ergebnis dieser als verewigten Blut-und-Boden-Politik zu bezeichnenden Haltung lässt sich festhalten: Millionen Menschen werden weiter stigmatisiert als nicht wirklich zugehörig, während sich viele Deutsche als Ausländer im eigenen Lande fühlen oder fühlen wollen, ganz nach dem Motto: endlich einmal Opfer sein, da kann man in "Notwehr" auch mal (wieder) die Sau herauslassen. Nur sporadisch, versteht sich.
Du wirst dich vielleicht irgendwann fragen, warum du einen deutschen Vor- und Zunamen hast. Du wirst dich eventuell sogar echauffieren, dass dein Vater einen Teil deiner Geschichte abgeschnitten hat wie einen alten Zopf, vergleichbar der Abdankung des Kaisers Wilhelm II am 9. November 1918 durch Scheidemannsches Pamphlet. Und vielleicht haben die Wiesbadener Zahlendrehermänner gar nicht so Unrecht mit ihrem Blut-Moratorium: Was ist, wenn ich das initiale Trauma meiner Mutter, 1963 als Mädchen aus dem Paradies gerissen worden zu sein, als dann auf mich übergegangenes Sekundärtrauma des von anderen Türken abgeschnittenen Muster-Türkendeutschen in ein neues Trauma dritten Grades zu transformieren im Begriff bin? Deine deutsche Mutter hat jedenfalls schon das Exklusivrecht der Namenswahl angemeldet, sollte uns noch einmal ein kleiner Junge ins Haus kommen: Emre soll er dann heißen. Wird es ein Mädchen, gilt Emine als Favoritin.
Mein lieber Strupp, was Kupferjunge auf Englisch heißt, das weiß ich ohne ins Dictionary schauen zu müssen: Copper Boy. Das türkische Wort für Kupfer musste ich erst googlen: bakır.
Iyi uykular, bakır çocuğum...
(In der Reihe 'A Beautiful Land' beschreibt der Autor seine Sozialisation als "deutschester Türke aller Zeiten" in einer Vorstadt der Millionenmetropole Köln.)
留言