"Ich war stolz wie Oskar!"
- Bülent Erdogan
- 19. Juni 2018
- 8 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 8. Okt. 2018
Nevin kam 1963 als 13-jähriges Mädchen nach Deutschland. Auch 55 Jahre später fühlt sie sich "im Land zwischen Bergen und Meer" (zm) fremd. Gelungen seien ihr vor allem die beiden Söhne, pflegt sie zu sagen. Ich habe Nevin gebeten, einige Wegmarken ihres Lebens zu Papier zu bringen.

>>...Ich erinnere mich noch gut an meine Kindheit in der Türkei: An Silvester wurde bei uns immer groß gefeiert. Vater schmückte dann einen Tannenbaum, mit Lametta und Wattekugeln. An der Decke hingen immer Lampions. Mutter bereitete gefüllten Truthahn zu und andere Leckereien. Zu Silvester gab es immer ein buntes Stelldichein. Die Erwachsenen spielten Karten und organisierten eine Tombola. Auch das Zucker- und Opferfest waren schöne Bräuche. Ich konnte vor den Feiertagen kaum schlafen und fragte mich, welches Geschenk es wohl geben würde.
Mein Vater, der ansonsten nicht sehr gläubig war, ging an Feiertagen zunächst in die Moschee. Wenn er zurückkam, gab es Kleidung, Schuhe und Geld. Mit dem Geld zogen wir aus, um es auszugeben. Ich fuhr sehr gern Karussell im nächsten Ort, da ich kein eigenes Rad hatte, lieh ich mir eines.
Vater unternahm sehr viel mit uns. Wir hatten auch ein Auto, was damals nicht selbstverständlich war. Wir fuhren ans Meer schwimmen oder ins Kino. Ich war sehr glücklich, als wir in Izmir meinen Onkel besuchten. Die Fahrt mit dem Schiff muss zwei Tage gedauert haben. Meine Eltern liebten Musik und besuchten mit uns Restaurants, in denen Live-Musik gespielt wurde. Ich kam mir vor wie eine Prinzessin, dafür dass er uns das alles bieten konnte, bewunderte ich meinen Vater. Meine Freundinnen bewunderten mich. Ich war Vaters Liebling. In jenen Tagen in Istanbul. Als einziges Kind von vieren hatte ich einen Kosenamen: alle nannte mich cip-cip (sprich: dschip-dschip).
In der Schule trugen wir Uniformen, wir Mädchen ein schwarzes Kleid mit weißem Kragen, schwarze Schuhe und Strümpfe. Die Jungen, ebenfalls in schwarzer Uniform, trugen kurze, adrette Frisuren. Jeden Morgen sangen wir die türkische Hymne. Dann nahmen die Lehrer unser Outfit ab. Neben mir saß Bülent. Sein Vater war Arzt. Ich hatte mich etwas in ihn verguckt. Fünf Jahre saßen wir Seit an Seit auf der Schulbank. Damals nahm ich mir vor, meinen Sohn auch Bülent zu nennen.

Dass meine Eltern mich nicht weiter haben lernen lassen, habe ich ihnen zeitlebens übel genommen. Der Junge vor mir konnte wundervolle Bilder zeichnen. Was wohl aus ihm und seinen Bildern geworden ist? In der vierten Klasse fing ich an, mehr zu lernen als notwendig. Mein ältester Bruder Münir besuchte da schon die Mittelschule. Ich lernte auch aus seinen Büchern, um meine Lehrerin mit meinem Wissen zu überraschen. In der Grundschule war ich eine sehr gute Schülerin. Ich war ein wissbegieriges Mädchen und wollte Ärztin werden. Hätte man mich gewähren lassen, dann wäre sicherlich mehr aus mir geworden als Friseurin. Deshalb bewundere ich meine Söhne, die studiert und Karriere gemacht haben und von denen jeder auf seine ganz eigene Art wunderbar ist. Ich kann sagen, dass ich zu ihnen ein gutes Verhältnis habe.
Als kleines Mädchen kletterte ich die Türrahmen hoch. Die Erwachsenen, die das schon einmal gesehen hatten, taten so, als hätten sie mich da oben nicht gesehen und fragten meine Mutter: "Ja, wo ist denn Nevin hin?" Ich hatte einen Riesenspaß daran und pflegte dann zu sagen: „Schaut, hier oben bin ich doch!“, und kletterte wieder herab. Ich fand das amüsant, die Erwachsenen ebenso.
In unserem Viertel wohnten viele griechische Türken. An Ostern bekamen wir Kinder von ihnen gekochte bunte Eier sowie leckere Osterzöpfe. Wenn allerdings Weihrauch aus den Fenstern der Nachbarn drang, musste Mutter sofort die Fenster schließen, weil mir dann nämlich schlecht wurde. Die orthodoxe griechische Kirche war bei uns um die Ecke. Einmal nahm eine Nachbarin mich mit in die Messe, da war ich sieben oder acht Jahre alt. Der Priester war riesengroß, in seinem schwarzen Gewand und mit seinem Kreuz am Hals kam er auf mich zu und streichelte mein Haar. Ich bekam es mit der Angst zu tun und rannte aus der Kirche, so schnell ich konnte. Noch heute habe ich eine Abneigung gegen Kirchen aller Art.
Ich war ein dünnes Kind, meine Schwester Sevim nannte mich daher Leylek, was Storch heißt. Oder man nannte mich „Nevin, der Skorpion“ (tr.: Akrep), der Vater mehr liebt als Mama. Weil ich Angst hatte, Mutter könnte auf mich böse sein, lehnte ich das immer lauthals ab. Mein Cousin rief immer: „Ah, da kommt Akrep Nevin!“ Mein Cousin und sein Vater bekamen von meiner Oma schicke Handschuhe gestrickt. Uns dagegen strickte sie keine Handschuhe, was ich ungerecht fand.

Im Jahr 1960 fand der Militärputsch gegen die Regierung Menderes statt. Plötzlich standen Panzer und Soldaten auf den Straßen. Für uns Kinder war das eine willkommene Abwechslung. Einer der Soldaten hob mich auf einen Panzer und zeigte mir das Innere. Ich weiß noch heute, wie eng es im Panzer war. Ich war ein fast zehnjähriges Mädchen und wie man hierzulande so gern sagt: stolz wie Oskar!
Was für uns Kinder ein Abenteuer war, das war für die Wirtschaft und die Erwachsenen weniger gut. Ich bekam mit, dass meine Eltern sich darüber unterhielten, wie es weitergehen solle. Mein Vater war selbstständig, er war nun öfter zu Hause. Darüber freute ich mich, ohne zu erahnen, welche Folgen die schwierige wirtschaftliche Situation noch zeitigen würde. Ich liebte meinen Vater und war immer in seiner Nähe, wenn er zu Hause war.
Wir wohnten in Istanbul am südlichen Ufer des Goldenen Horns. Unser Haus hatte fünf Stockwerke und war, anders als die anderen Gebäude, schon massiv aus Stein gebaut. Jeden Tag stieg ich die vielen Stufen auf, um auf der Dachterrasse die Schiffe zu beobachten, wie sie über das Wasser glitten. Auch heute noch gibt der Blick auf das Meer mir ein Gefühl von Freiheit.
Ich lief auch auf das Dach, als zum ersten Mal das Wort Deutschland, ‚Almanya‘, fiel. Ich war gerade zwölf Jahre alt, da beschloss mein Vater, seine Firma, eine Drahtzieherei, zu schließen, weil sie nicht mehr genug abwarf, und in Deutschland sein Glück zu versuchen. Die Deutschen suchten damals händeringend nach Arbeitern und warben nun auch Türken an. Mein Vater, der Apotheker gelernt hatte, ging aber nicht zu einem der Anwerbebüros, wie dies mein Onkel tat, ohne dass wir Kinder es wussten, sondern kam auf eigene Faust als Tourist nach Deutschland. Als wir meinen Vater 1962 am Bahnhof Sirkeci verabschiedeten, da ging auch ein Teil von mir mit ihm verloren. Zwar hatte Vater versprochen uns nachzuholen, doch ich war untröstlich und vergoss viele Tränen.

Ein Jahr später holte Vater uns nach. Als wir nun am Bahnhof auf den Zug warteten, freute ich mich, weil ich endlich meinen Papa wiedersehen würde. Gleichzeitig hatte ich Angst vor diesem fremden Land mit seinen fremden Menschen. Vor einem Land, dessen Sprache ich nicht konnte. Drei Tage fuhren wir im Zug gen Westen. Im Zug gab mir eine Frau eine Banane. Die Frau war wirklich sehr freundlich. Und die Banane schmeckte auch sehr gut. Wenn schon die Bananen so gut schmecken, dachte ich, dann muss dieses „Almanya“ bestimmt auch sehr gut sein.
Unsere Zugreise endete in Köln. Von der Millionenstadt Istanbul ging es über die Domstadt für uns weiter in ein Dorf mit 30 Häusern, also an einen Ort, wo sich die Füchse gute Nacht sagten. Aus einer Großstadt in ein Dorf zu kommen, in dem es kein fließendes WC-Wasser gab und der Topf per Hand geleert werden musste, war ein Schock. In Istanbul kannten wir das ja nicht.
Meine Mutter wurde mit der Zeit unglücklich und depressiv. Sie war völlig isoliert, hatte niemanden mehr, mit dem sie hätte sprechen können. Familie und Freunde waren in unserem Stadtteil Fener zurückgeblieben. Mein Vater hatte Mutter zu trösten versucht und davon gesprochen, dass wir lediglich vier oder fünf Jahre in Deutschland bleiben und danach wieder nach Hause fahren würden. Mein Vater wollte nicht „mit leeren Händen“ nach Hause zurückkehren: „Was sollen denn die Leute von uns denken?“, fragte er rhetorisch und wusste die Antwort schon. „Ohne etwas in den Händen können wir nicht zurückkehren.“
Wir fügten uns den Eltern. Ich ging in eine Zwergschule und machte dort meinen Volksschulabschluss. Zum Glück hatte sich der Lehrer, Gott habe ihn selig, dort, trotz 30 Schülern, viel Mühe um uns gegeben und uns, die wir kein Wort Deutsch sprachen, die Sprache beigebracht. Ich hatte keine Schwierigkeiten, Kontakt zu einheimischen Kindern zu knüpfen. Ich erinnere mich, wir Türken waren damals beliebt, was man heute wohl nicht mehr so behaupten kann. Leider ließ man mich nicht weiter zur Schule gehen, weil ich auf meine jüngeren Brüder aufpassen sollte. Denn meine Mutter hatte eine Arbeit gefunden, um das nötige Geld zusammenzubringen.
Ich musste zuhause viel zur Hand gehen. Wie andere Mädchen zu sein und sich einfach mal zu treffen, war mir verboten. Als ich 16 Jahre alt war, luden uns Nachbarn ein. Als der Nachbar meinem Vater eröffnete, ich könnte ja mit dem Sohnemann mal ausgehen, zum Beispiel zum Tanzen, da fiel meinem Vater beinahe die Gabel aus der Hand. Schon der Gedanke an einen Freund war verboten. Deshalb wäre ich lieber ein Junge geworden, denn die durften ja alles.
Mit 18 Jahren habe ich dann eine Lehre als Friseurin absolviert und mit Gut abgeschlossen. Eigentlich wollte ich lieber MTA werden, weil das dem Arztberuf immerhin nah gekommen wäre. Doch meine Eltern machten mir einen Strich durch die Rechnung. Ein Mädchen heirate ja eh früher oder später, warum also dann eine lange Lehre, hieß es. Mein Vater war in Deutschland insgesamt strenger geworden. Als ich ein männliches Model für einen Schnitt benötigte, kam mein Vater in den Salon. Mein Ausbilder schickte ihn wieder weg. Denn mein Vater hatte ein Glatze. Mein jüngster Bruder Ümit stellte schließlich seinen Schopf zur Verfügung. Die Lehre hat mir gefallen, weil ich dann wenigstens das Haus verlassen konnte.
Im Alter von 21 Jahren habe ich dann geheiratet und zwei wunderbare Kinder bekommen, auf die ich sehr stolz bin. Ich habe versucht, sie nicht zu sehr "als Türken" zu erziehen, da wir ja in Deutschland lebten und sie bessere Chancen haben sollten als ich.
Auch heute, 55 Jahre nach diesem Tag, an dem wir in Köln ankamen, komme ich mir in Deutschland fremd vor. In der Türkei bin ich aber genauso fremd. Insofern sitze ich zwischen allen Stühlen. Der seit Langem schwelende Ausländerhass macht mir Angst. Die Aversion gegenüber Fremden wird immer größer, aber natürlich habe ich auch sehr tolle Deutsche kennengelernt. Ich hoffe, dass alles nicht eines Tages ein böses Ende nimmt.
Leider ist mir Deutschland nicht zu einer Heimat geworden. Ich hoffe, dass Deutschland für meine Kinder eine Heimat sein kann. Es gibt nichts Schlimmeres, als sich nach so langer Zeit immer noch als Fremde zu fühlen. Im Fernsehen wird nur Negatives berichtet. Ich wünsche mir das Deutschland zurück, in dem weniger Hass herrschte. Wir haben alle Vorurteile, aber es darf einfach nicht so ausufern wie zuletzt.

Vor kurzem sprach mich ein Nachbar an. Er habe erfahren, dass wir in der Türkei Urlaub machen wollen. Als ob es nicht auch hierzulande genug Türken gebe. Ich habe darauf nichts erwidert, es würde nichts bringen. So denken mittlerweile viele über Türken und andere Ausländer. Wie gesagt, zum Glück gibt es noch die anderen Deutschen.
Einmal habe ich doch etwas gesagt. Eine Frau hatte mich erst kürzlich auf der Straße angesprochen und sich über Ausländer hier und Ausländer dort ausgelassen. Irgendwann schaute sie offenbar etwas genauer hin und sagte: „Sie sind aber auch nicht von hier, oder?“ Da platzte mir der Kragen und ich empfahl ihr: „Jetzt machen Sie mal schnell, dass Sie fortkommen!“ Die Frau setzte sich auf ihr Rad und machte sich zum Glück vom Acker.
Mein Tod bereitet mir einige Sorge, weil ich noch nicht einmal nach religiösem Ritus beerdigt werden kann, also nur in ein Leichentuch eingewickelt. Mein Mann ist Deutscher. Er neckt mich gern und sagt, er werde mich einäschern lassen, was eine Todsünde wäre.
Irgendwann werde ich mein Leben aufschreiben. Es wartet sicher niemand darauf, aber dann habe ich mir wenigstens Luft verschafft...<<
(In der Reihe 'A Beautiful Land' beschreibt der Autor seine Sozialisation als "deutschester Türke aller Zeiten" in einer Vorstadt der Millionenmetropole Köln.)
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