Füttern verboten!
- Bülent Erdogan
- 6. Okt. 2018
- 5 Min. Lesezeit
Es begab sich eines Sommers in den 1970ern, dass einige Strandurlauber auf ein Kind aufmerksam wurden, welches permanent "Brei" verlangte, nach "Brei" darbte, nach der turnusmäßigen wie außerplanmäßigen "Breispeise" nachgerade sehnsüchtete.

In den Sechziger- und Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts hatte ein weiblicher Rufname in Deutschland plötzlich Hochkonjunktur. Ob Sigrid oder Jutta, Mechthild oder Christa, ein Name stach sie nach und nach alle aus: A-nn-e. Gesagt, gewispert, geschrien, gezwitschert, geradebrecht, gerufen, geliebt, geklagt aus hunderttausenden Kehlen, in Millionen unterschiedlichen Kontexten, Situationen und Gelegenheiten. Anne rockte sie alle, quer über den Hausflur geschleudert, von der Grasnarbe in den fünften Stock und darüber hinaus gebrüllt, als markerweichender Schrei im Supermarkt oder auf dem Spielplatz: Aaaa-nnnnnäääääääähhhhh! (Betonung auf der zweiten Silbe beim siebten „ä“)
Zwei Buchstaben, die die Welt bedeuten
Barbaren, diese „Deutschländer“, bringen ihren Kindern noch nicht einmal den türkischen Namen für Mutter bei, genauer gesagt: das Wort, welchem Heintje im Jahr 1967 mit dem Schlager „Maaaahma!“ ein Denkmal setzte.
Mich musste man, wie bei so vielen Trends (Mokassins (erstes Füßeln), Tanzschule (allerdings vergeblich), erste Freundin (Füßeln, Teil 2), „Hör mal, wer da hämmert“ (immer wieder gern)), allerdings erst zum Jagen tragen, ehe es etwas wurde mit dem Frauennamen der 1970er schlechthin. Erst als meine Mutter damit drohte, nicht mehr auf den ihr seit Geburt angestammten Namen zu hören und ihren Balg fortan zu ignorieren, wurde auch sie eine Anne. Aber was war passiert?
Es begab sich eines Sommers in den 1970ern, dass einige Strandurlauber auf ein Kind aufmerksam wurden, das permanent "Brei" verlangte, nach "Brei" darbte, nach der nächsten "Breispeise" nachgerade sehnsüchtete. "Brei", ich habe mir wehgetan. "Brei", guck mal, wie ich die Flasche halte. "Brei", mir ist warm/kalt/langweilig. "Brei, Brei, Brei." Auf Deutsch: "Mama, Mama, Mama!"
Ein strohblonder, leicht unterernährt ausschauender, quengeliger, renitenter Strupp, der trotz exquisiten kulinarischen Angebotes des Urlaubslandes nur nach Brei verlangt, so etwas war den Menschen am Marmara-Meer bestimmt noch lange nicht untergekommen. Barbaren, diese „Deutschländer“, bringen ihren Kindern noch nicht einmal den türkischen Namen für Mutter bei, genauer gesagt: das Wort, welchem Heintje im Jahr 1967 mit dem Schlager „Maaaahma!“ ein Denkmal setzte. „Und bringt das Leben mir auch Kummer und Schmerz“, sang Heintje einst, „ Dann denk ich nur an dich / Es betet ja für mich oh Mama dein Herz / Mama / Mama“. Aber das konnten die Türken ("Selbst im Urlaub: Überall Türken!") damals nicht wissen.
Noch heute hat das Wort Anne für mich einen ganz eigenen Klang, ist mir nolens volens immer noch ein Stück weit fremd. Gegen Mama oder Mami kann man doch wirklich nichts einwenden. Mein Kupferjunge zum Beispiel findet das Wort knorke. Natürlich wollte meine Mutter nicht in zwei Ländern als Renegatin gelten, nicht im Urlaub in der Heimat, auf den sie sich immer so sehr freute. Mit dem atemberaubenden Blick vom Balkon auf die Prinzeninseln, die ihrer Heimat Istanbul vorgelagert aus dem Marmara-Meer herauslugen. Will ich heute meine An-n-äh ärgern, dann nenne ich sie am Telefon mit lang gezogenem „ä“ gern auch mal „Mutt-äh-r“.
In den vergangenen Jahren sind mir einige nicht verwandte oder verschwägerte Annes begegnet: meine Ex-Kollegin im Verlag und vor kurzem unsere freundliche Vermieterin, die wiederum ihr ganz eigenes Problem mit dem Namen hat und den zweiten Rufnamenteil -„liese“ einfach weglässt. Immer wenn ich eine deutsche Anne treffe, muss ich mich konzentrieren, das Wort auch „deutsch“ auszusprechen, also mit der Betonung auf der ersten Silbe. Und immer wenn jemand anderes von einer Anne spricht, dann fühle ich mich irgendwie fremd berührt.
Eine tiefenpsychologische Analyse würde wohl ergeben, dass mit dem Wechsel von „Mama“ zu „Anne“ auch eine Veränderung im Verhältnis von Mutter und Sohn stattgefunden hatte. Denn mit dem neuen Namen verbunden war die Allokation von Aufmerksamkeit und Ressourcen. Ich erinnere mich noch daran, dass „Mami“ das Geld für den Eismann erst dann aus dem fünften Stock in die Tiefe warf, eingewickelt in ein Stück Taschentuch, wenn sie den Ruf „Anne“ vernahm: Keine Anne, kein Eis. Und der Eismann kam täglich. Keine Anne, keine Klickermurmeln (noch so ein vergessener analoger Klassiker) für die große Spielrunde. Und so weiter und so fort.
Ich sage noch heute gern „Mama“, und noch lieber „Mami“, wenn ich mit meinem kleinen Jungen rede und seine Anne erwähne. Natürlich gibt es zu Mami auch ein türkisches Pendant: Anne-ciğim. Das Kosewort bedeutet etwa so viel wie „meine liebste Mami“. Meine Mutter hat uns nicht gezwungen, sie „Anneciğim“ zu nennen, vielleicht hätte sie mal gut daran getan, in dem Punkt einmal autoritär zu sein. Das Suffix „-ciğim“ lässt sich übrigens an jeden Namen flanschen. Erwin-ciğim ginge, Adolf-ciğim oder Angela-ciğim.
Schokogenuss ohne schlechtes Gewissen
Für mich wünsche ich mir, er entscheidet sich frei zwischen Papa oder Papi oder Baba oder Tata oder Tatusz oder Dada oder Duda. Das Bordstein-Eis gibt es ohne Junktim, ohne dieses eine jedenfalls.
Nun ist die türkische Sprache derart einfach, dass es seitens seiner Nutzer anscheinend von Zeit zu Zeit einer Komplexisierung bedarf: Mein Papa, türkisch korrekt: „Baba“, verwendet im mündlichen wie schriftlichen Vortrag mit seinem Erstgeborenen zuweilen die Redewendung „Babaciğim“. Und er meint damit verwirrender Weise mich. Ich weiß nicht, ob er es sagt, weil ich es nie zu ihm gesagt habe. Ich habe aber andere Mütter und Väter schon quasi selbstreferenziell mit ihren Kindern sprechen hören, eine Besonderheit der türkischen Kose-Sprache.
Ähnlich verhält es sich, wenn, dies soll vorkommen, der Vater mit dem Sohne hadert. Dann wird aus dem flegelhaften Dreikäsehoch der „Sohn des Esels“ oder des „Rindviehs“ (eşoleşek bzw. itolit als Einkürzungen der Redewendung eşek oğlu eşek bzw. it oğlu it) - oder Baba greift zum Äußersten und flucht, dass er dem Vater des Kindes eine Ladung Mist in den Mund verfrachten möchte (Babanın ağzına sıçayım / In Deines Vaters Mund Lass Mich Scheißen!). Ich bin zu gut erzogen und renitent, um Redewendungen wie diese unkommentiert zu übernehmen. Etwas umgedichtet („Babanın ağzına ot koyayım“), passt es auch ins Jugendprogramm.
Mama zu sagen, das gehört für kleine Kinder zu den wichtigsten Verlautbarungen überhaupt. Und zwar international. Die Süddeutsche Zeitung hat kürzlich von einem zweijährigen Kind berichtet, das mit seiner Familie am Frankfurter Flughafen in Haft genommen worden war, weil der Asylantrag offenkundig "unbegründet" ist. >>Während der Anhörung vor dem Amtsgericht fragt Anwalt Peter Fahlbusch den Jungen, ob er verstehe, worum es gerade gehe. Im Protokoll ist vermerkt: "Das Kind antwortet lediglich mit ,Mama'"<<. Es geht eben immer noch ein Stück unmenschlicher, wenn Gesetze gegen Minderheiten und ihr Recht auf Leben, Gesundheit und Glück gerichtet sind. Wie weit all die Sondergesetzgebung, die Erfindung von Rassen und Klassen und Unterschieden, letztlich gehen kann, hat sich am Schicksal und Beispiel von Anne Frank exemplarisch gezeigt. Ihr sei an dieser Stelle als wohl bedeutendster nicht-türkischen Anne überhaupt gedacht.
Wie es bei meinem Sohn sein wird mit einem eigentlich ganz einfachen Wort, an dem doch so vieles hängen kann, das wird sein Vermächtnis für unsere Familie sein. Für mich wünsche ich mir, er entscheidet sich frei zwischen Papa oder Papi oder Baba oder Tata oder Tatusz oder Dada oder Duda. Das Bordstein-Eis gibt es ohne Junktim, ohne dieses eine jedenfalls.
(In der Reihe 'A Beautiful Land' beschreibt der Autor seine Sozialisation als "deutschester Türke aller Zeiten" in einer Vorstadt der Millionenmetropole Köln.)
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