Konterfei der Liebe
- Bülent Erdogan
- 7. Mai 2018
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 8. Juni 2018
Zwei Brüder eifern um die Gunst ihres Vaters, verlieren sich darin und werden zum Mythos. Eine anatolische Sage.

Behutsam strich Zara mit ihrer linken Hand über ihren prallen, runden Bauch. Die ersten Blicke, mit denen sie aus ihren großen, wunderschönen braunschwarzen Augen den neuen Tag willkommen hieß, gingen wie üblich zum kleinen Fenster, dessen Kitt sie und ihr Liebster erst kürzlich erneuert hatten. Sogleich realisierte Zara, dass nicht eine Wolke zu sehen war. Endlich, der erste Morgen seit Langem ohne Schneetreiben. Sie stieß einen Säufer der Erleichterung aus.
Nicht dass sie etwas gegen Schneetreiben gehabt hätte, Gott sei für seinen Schnee gelobt, ob er nun schwer und nass, leicht und flockig, willkommen oder eher lästig sei. Aber diese ersten Winterwochen waren außergewöhnlich schneereich gewesen. Würde man auch nur jede tausendste Flocke, die in den vergangenen Wochen vom Himmel gefallen war, in Gold aufwiegen, es hätte für jeden in Boğazgören Köy, das Dorf, das den Schlund sieht, zu einem stattlichen Wohlstand gereicht - mindestens aber zu einer Reise ins ferne Erzurum. Für eine Schwangere und ihr Kind indes war ein schneereicher Winter nicht ohne Gefahren, auch wenn die weiße Pracht wirklich prächtig sein konnte. So viel Gotteslob musste schon sein, das wusste natürlich auch Zara.
Die ersten Sonnenstrahlen drangen aus der Ferne des sagenumwobenen Kaukasus in das Dorf am Fuß der beiden Berge, die Zara und die übrigen Bewohner des Dorfes am Schlund des Tals Barış und Savaş nannten. Die Zwillinge hatten vor mehr als eintausend Jahren in immer neuen Wettbewerben um die Gunst ihres Vaters gerungen. Und dieser war mächtig stolz auf sie. Leider konnte er seinen groß gewachsenen, mit strohblondem Haar auf die Welt geworfenen und vor Kraft und Intelligenz strotzenden Kindern nicht begreiflich machen, dass er sie gleich liebte und dass sich diese Liebe nicht einmal nach dem Gewicht eines Staubkornes unterscheiden ließe.
Und so buhlten Barış und Savaş, mit jedem Jahr, in dem sie an Zentimetern und Gewicht und motorischer wie gedanklicher Wendigkeit zulegten, mit immer größerer Verve um die Gunst ihres Vaters. Mal sammelten sie so viele Äpfel, dass der Knecht der Familie noch im nächsten Frühjahr mit dem Zählen beschäftigt war. Mal fingen sie jede Woche so viele Fische, dass der Ältestenrat hatte einschreiten müssen, weil der ganze Fisch den Leuten im Dorfe irgendwann aus dem Halse hing und die Bewohner nicht mehr aus noch ein wussten, wohin sie die Gräten und Schuppen verstreuen sollten.
Mal schlug Barış einen ausgewachsenen Braunbären, ach was, gleich zwei Braunbären, mit ohrenbetäubendem Gebrüll und nach langem Ringkampf in die Flucht. Mal nahm es Savaş mit einem Rudel zähnefletschender, blutverschmierter persischer Wölfe auf, die am Vortag die Schafherde des raffgierigen wie geschäftstüchtigen Mahmut Khan gerissen hatten. Doch wie sehr sich Barış und Savaş auch bemühten, immer versicherte ihnen der treue und liebevolle Vater, dass er sie gleich innig liebte und lieber wahnsinnig werden würde, als sich zu entscheiden, welchem Sohn er das Herz brechen solle.
Da fassten die Zwillinge den Entschluss, dass demjenigen die ungeteilte Liebe ihres Vaters zuteil werden solle, der als erster auf dem Gipfel des Berges in unmittelbarer Nähe der Schafhirtenstation ein großes Feuer würde entfachen können. Der unterlegene Bruder würde auswandern ins entfernte Balkanien und nie mehr zurückkehren. Kaum hatten sie die Wette mit einem brüderlichen Handschlag besiegelt, machten sich Barış und Savaş auf in den bewaldeten Berg und legten Meter um Meter im Sturm zurück. Als hätten sie Siebenmeilenstiefel an ihren Füßen, fegten sie über Stock und Stein, dass selbst die neugierigsten Spatzen nicht mehr hinterherkamen und erschöpft aufsteckten, die Schnäbel weit geöffnet.
In ihrer Hatz um des Vaters Gunst hatten Barış und Savaş indes nicht mitbekommen, dass ein schweres Gewitter aufgezogen war. Wie es für diese besonderen Zwillinge zu erwarten war, hatten beide Brüder, das Plateau des Gipfels zeitgleich erklommen, Barış mit dem linken, Savaş mit dem rechten Fuß zuerst. Mit grimmiger Miene blickten sie einander an. Dann, nur den Wimpernschlag eines Dschins später, rannten sie aufeinander zu, um den elenden Widersacher endlich zu erschlagen. Just in diesem Moment zuckte vom Firmament ein gewaltiger Blitz in Richtung Erde. Er erfasste beide Brüder noch im gleichen Atemzug.
Bruchteile später bebte auch unten im Tal die Erde. Als sich die Dorfbewohner, die mit zugekniffenen Augen dem Gewitter und dem Sturm getrotzt hatten, wieder aufgerappelt hatten, sahen sie, dass der Berggipfel wie mit einer riesigen Axt gespalten worden war. In mancher Nacht, so erzählen sich die Dorfbewohner seither, leuchtet an der linken Spitze die eine Hälfte des Gesichts von Barış vom dunklen Himmel herab, an der rechten Bergspitze vervollständigt Savaş mit seiner Gesichtshälfte das Antlitz zweier Brüder, die vergeblich eine Entscheidung herbeizuführen aufgestiegen waren.
Goldgelb lugte die Sonne durch den Spalt zwischen Barış und Savaş. Zara erinnerten die zarten Strahlen der Sonne an filigran geschnittene Finger. Sie stellte sich vor, wie Engel mit ihnen auf die Stirne der Menschen tippten, um diese aus dem Schlaf zurück ins Leben zu holen. Denn wer nicht mitten in der Nacht mit dem geschätzten wie gefürchteten Engel des Todes Bekanntschaft gemacht hatte, würde dank Gottes Gnade einem neuen Tag entgegensehen. So mühsam jeder Tag für Bauern auch sein mochte, jeder einzelne war eben auch ein Geschenk. Und das galt auch für Azrael. Ohne seinen Besuch in der Nacht würde es auch kein neues Leben geben, so viel war nun einmal klar. Und für Zara war es essenziell, dass Gott einen seiner greisen Schutzbefohlenen zu sich holte, um Platz zu schaffen für ihr Kind, dessen Ankunft auf diesem verschneiten, schönen Flecken Erde nur noch eine Frage von Tagen war.
Zwei Tagesreisen mit Esel und Karren entfernt, im Winter je nach Witterung auch mehr, lag der große Berg der Menschen in diesen Breiten. Schon Dschingis Khan hatte den Ararat erklimmen wollen, deshalb sei er auch aufgebrochen seinerzeit und habe die Türken im Sattelgepäck gehabt, erzählte man sich in lauen Sommernächten gerne im Dorf. Wie das Pastırma, den rauchigen Knoblauchschinken, den die Krieger unter ihren Satteln deponierten, um ihn nach geschlagener, siegreicher Schlacht hervorzuholen und mit einem Tee in der anderen Hand zu verspeisen.
Mit der rechten Hand kontrollierte Zara, ob der kleine Wurm sich in der Nacht in eine neue Position gebracht hatte. Für ein Bauernmädchen waren ihre Hände, ihre Finger außerordentlich zart. Ihre Hände waren so zart, dass die anderen Mädchen des Dorfes sie immer wieder damit aufgezogen hatten, dass kein Mann sie mit diesen Händen würde heiraten wollen: Wie wolle sie denn mit den Händen einer Prinzessin die Ziegen melken oder den Teppich klopfen? Ausgeschlossen sei das, hatten sie Dilek, Zaynap und Elif am Dorfbrunnen geneckt. Und was würde ein Mann wohl sagen, wenn sie den Eimer nur halb mit Wasser würde füllen können, weil der Henkel zu stark in die zarte Hand schnitt. Aus-ge-schlossen sei das.
Wieder und wieder ging ihr in diesen Augenblicken des noch jungen Sonntagmorgens ein Gedanke durch den Kopf: „Wie mein Baby wohl aussehen wird?“ Es rumorte unter ihrem lockigen, braunen Haar, um das sie alle im Dorf beneideten. Ihr hatte es den Spitznamen „Größter Lockenkopf zwischen Batumi und Bagdad“ eingebracht. „Und was wird Lütfü nur für Augen machen, wenn es da ist? Ich schenke ihm ein Baby.“ Zara wurde es warm ums Herz. Und doch hatte sie große Angst vor der Niederkunft.
Zara kam eine Frage nach der anderen in den Sinn: „Ob in diesem Winter der Rekord fällt, von dem alle im Dorf erzählen? Wie sollen wir unseren Kleinen dann nur beim Landrat anmelden? Bestimmt wird er tapfer sein, wie ein Löwe. Ja, so tapfer wie ein Anatolischer Löwe...
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