Erdal Keser, Fußballgott
- Bülent Erdogan

- 9. Apr. 2018
- 8 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 25. Juli 2019
Zu den besonderen Leistungen jedes ausländischen Fußballspielers der ersten Bundesligajahrzehnte gehörte es, für einen Türken oder Rumänen mag dies in besonderer Hinsicht gelten, dass sie es überhaupt in die erste Elf schafften. Denn anders als heute gab es für jede Mannschaft ein Ausländer-Limit.

Der erste mir geläufige türkische Fußballspieler war Erdal Keser. Keser (sprich: "Kä-sser-sch"), Jahrgang 1961, geboren in Sivas im Herzen Anatoliens und als Junge nach Hagen übergesiedelt, spielte von 1980 bis 1984 und von 1986 bis 1987 bei Borussia Dortmund, für das er als Offensivspieler 27 Tore schoss. Gemeinsam übrigens mit einem gewissen Marcel Raducanu. Dieser hatte sich 1981 während einer Deutschlandreise seines Clubs Steaua Bukarest vom Rest der Mannschaft abgesetzt, seine Zelte in Rumänien abgebrochen und dafür sogar seine Frau zurückgelassen.
Rumänen galten spätestens 1984 als Avantgarde der kommunistischen Welt, als Staatspräsident Nicolae Ceaușescu den Boykott boykottierte, den die Sowjets für die Olympischen Sommerspiele von Los Angeles Ende Juli 1984 ausgerufen hatten.
Ronald Reagan at his best, 1984
"Meine amerikanischen Mitbürger, ich bin erfreut, Ihnen heute mitteilen zu können, dass ich ein Gesetz unterzeichnet habe, welches Russland für immer für vogelfrei erklärt. Wir beginnen mit der Bombardierung in fünf Minuten."
Mit ihren fröhlichen Gesichtern und ihren rot-gelb-blauen Fähnchen drehte die rumänische Olympiamannschaft zur Eröffnung auf der Tartanbahn unter der Sonne Kaliforniens ihre Runde und zeigte dem Obersten Sowjet Konstantin Ustinowitsch Tschernenko (was für ein klingender Name!) symbolisch den Stinkefinger. Ganz zur Freude von Ronald Reagan und dem von ihm angeführten Westen, der vier Jahre zuvor einen Olympia-Boykott ausgerufen hatte, und zwar in Moskau. Anders als zum Beispiel Großbritannien war Deutschland dem Boykottaufruf 1980 nachgekommen - sehr zur Freude von Daley Thompson auf der einen und zum Leid von Jürgen Hingsen auf der anderen Seite, dem bundesdeutschen Zehnkampf-Titanen seiner Zeit.
Im August 1984 hätte Ronald Reagan übrigens fast den Dritten Weltkrieg ausgelöst, als er aus Scherz beim Tontest für eine Radioansprache in Cowboy-Manier ins Mikro posaunte: "Meine amerikanischen Mitbürger, ich bin erfreut, Ihnen heute mitteilen zu können, dass ich ein Gesetz unterzeichnet habe, welches Russland für immer für vogelfrei erklärt. Wir beginnen mit der Bombardierung in fünf Minuten." Man stelle sich vor, es hätte damals schon Twitter gegeben. Jedenfalls muss Donald Trump bei Reagan in die Schule gegangen sein.
Ich war so oder so beeindruckt von den ersten Olympischen Spielen, die ich als nun Zehnjähriger im Großen und Ganzen bewusst wahrnahm. Da war Giorgio Moroders fabelhafte, dahin geschmolzene Olympia-Fanfare "Reach out for the medal" mit dem legendären Klatsch-Rhythm. Und da war Rocket Man Bill Suitor, der durch die Lüfte des Olympiastadions düste. Da war unser Wesselinger Medaillen-Mädchen Ulrike Meyfarth, das sein Hochsprung-Gold von 1972 wiederholte. Da war der "Albatros" Michael Groß, der mit seinen Flügeln durch das olympische Schwimmbecken stob.
Ein Glück, dass die Streikbrecher aus den Karpaten dabei waren, ansonsten wären uns die rumänischen Turnerinnen vorenthalten geblieben, wer von uns Älteren erinnert sich nicht noch an Ecaterina Szabó? Lohn für den "Verrat" der Rumänen 1984: Platz 2 der Nationenwertung hinter den allmächtigen USA - und noch vor der Bundesrepublik Deutschland.
Die Motive der rumänischen Sportler bildeten den unglaublichen Kontrast zu den dramatischen Ereignissen, die fünf Jahre später aus Rumänien über die Bildschirme auch in die landkölnische Kleinstadtidylle flimmerten. Damals gelangte eine eher unbekannte Stadt namens Temesvar im Banat für den Schlag einer weltgeschichtlichen Wimper ins Rampenlicht und riss alles mit sich.
Am 21. Dezember 1989 geriet schließlich eine Kundgebung in Bukarest zum Debakel vor laufender Kamera. Der Führer wollte sich von der Masse bestätigen lassen. Doch er hatte die Rechnung ohne sein Volk und seine Leute gemacht: "Libertate! Libertate!", "Freiheit! Freiheit!", lautete der Schlachtruf jener, die genug hatten von Misere. Mitglieder der "Securitate" ballerten aus dem Hinterhalt, Menschen fuhren auf Panzern durch Bukarest, die um das sozialistische Emblem befreite rot-gelb-blaue Tricolore in den Händen. So nahm also auch im Rumänien Raducanus und Szabós die Revolution ihren Lauf. Die Geschichte endete mit einer blutigen Weihnachtsfeier und der Erschießung Nicolae Ceaușescus („A-lo, A-lo!“ („Hallo, Hallo!“)) und seiner Gattin Elena nach einem wirklich kurzen (Schau-)Prozess. Und in Panama verpasste ein General namens Noriega einen lebensrettenden Abgang.
Ich war elektrisiert, so wie zuvor bei den berühmten Worten Hans-Dietrich Genschers, die er im September 1989 auf dem Balkon der Deutschen Botschaft in Prag gesprochen hatte: "Liebe Landsleute, wir sind zu Ihnen gekommen", beginnt Genscher auf dem Botschaftsbalkon das wohl kürzeste Eingangsstatement seiner Politikerlaufbahn, "um Ihnen mitzuteilen", Pause, "dass heute", erneute Pause, dann die alles entscheidenden Worte "Ihre Ausreise..." Der Rest des Satzes geht unter im Jubel der inzwischen mehr als 4.000 DDR-Bürger, die in den vergangenen Tagen in die Botschaft geflüchtet sind und in der Parkanlage kampiert haben, um ihre Ausreise in die "BRD" zu erzwingen.
Mächtig Eindruck hinterließ bei mir auch die riesige Demo auf dem Alexanderplatz vom 4. November, als ich in den Gesichtern von vielleicht einer Million DDR-Bürgern (später "Ossis" geschmäht) schon einen neuen Typus des Deutschen aufkeimen sah, eines Deutschen, der das Soziale über das Nationale stellen würde. Ich war der festen Überzeugung, dass wir, die wir westlich des Eisernen Vorhangs alle Vorteile der Ausbeutung der Dritten Welt genossen (die angelich neue Globalisierung ist Jahrhunderte alt), von den Brüdern und Schwestern aus Ost-Berlin, Rostock oder Leipzig Lektionen in Sachen Menschlichkeit würden erteilt bekommen. Einige Wochen später sollte sich diese Hoffnung als juvenil erklärlicher Trugschluss erweisen: die revolutionäre Gesinnung wurde mit der Aussicht auf die D-Mark und den schnellen Anschluss an den bundesrepublikanischen Konsumrausch abgekauft. Helmut Kohl hatte ganze Arbeit geleistet und blühende Landschaften versprochen.
Hatte die erste Jahreshälfte 1989 die furchtbare Niederschlagung des Chinesischen Frühlings auf dem Platz des Himmlischen Friedens mit sich gebracht und waren einige der bahnbrechenden Entwicklungen in Polen und Ungarn einem Pennäler wie mir bis dato unbekannt geblieben, so bot das zweite Halbjahr ein Highlight der Befreiung vom Joch des Staatsmonopolkapitalismus nach dem anderen. Den Abend des 9. November 1989, als Hajo Friedrichs berühmt gewordene Worte journalistischer Propädeutik sprach, verpasste ich allerdings. Erst am Freitagmorgen bemerkte ich, dass etwas Großes passiert sein musste. Wie immer war einer meiner ersten Wege der zur Flimmerkiste, wo ich flugs den Videotext von SAT.1 einschaltete, um mich blitzschnell mit den neuesten Entwicklungen vertraut zu machen. Eine Deutschlandfahne prangte auf dem Bildschirm. Am Freitagabend sangen Walter Momper, ("Für Sie immer noch Doktor") Helmut Kohl und Willy Brandt vor dem Berlin-Schöneberger Rathaus das Deutschlandlied. Viele Demonstranten pfiffen zurück.
Doch zurück zur damals noch recht jungen Bundesliga und Erdal Keser: Zu den besonderen Leistungen jedes ausländischen Fußballspielers der damaligen Zeit gehörte, für einen Türken oder Rumänen mag dies in besonderer Hinsicht gelten, dass sie es überhaupt in die erste Elf schafften, Denn anders als heute gab es für jede Mannschaft ein Ausländer-Limit, mehr als zwei Spieler ohne Bundesadler auf dem Pass duften pro Mannschaft nicht zum Einsatz kommen. Keser und Raducanu kamen aus Nationen, deren Nationalauswahlen in der Vergangenheit nicht gerade zu den großen Kalibern gehörten. Insofern ist ihre Leistung heute noch höher zu bewerten.
Coşkun Taş, Vizemeister mit dem 1. FC Köln im Jahr 1960
"Später sagte man mir, Franz Kremer hätte angeordnet, dass in einem deutschen Finale nur Deutsche stehen sollen. Das hat mich schwer getroffen. Danach habe ich mich stärker auf meinen Beruf konzentriert und bin zu Ford gegangen."
Erdal Keser (hier im Interview bei "11Freunde") war also der erste türkische Kicker in meinem Leben: Ein Mann, dessen Vorname in zigtausenden deutschen Haushalten auf Schuhcreme-Dosen prangte. Der Nachname ist deutschen Firmendynastien verschriebenen Zeitgenossen vielleicht geläufig in der Person des Vorstandsbosses von Siemens, Joe Kaeser. Allerdings wird Erdals Zuname ja „Kä-ssser-sch“ ausgesprochen, mit Betonung auf der zweiten Silbe. Grammatikalisch handelt es sich um den Aoristen des Infinitivs kes/mek, dt.: schneiden. Erdal pflegt also zu schneiden. Den Aoristen kennt im Übrigen jeder Deutsche: denn mit dem Dön/er ist es das Gleiche. Er pflegt sich zu drehen, bis er abgesäbelt oder verbrannt ist.
Kesers Vater war einst dem Ruf der Stadt Hagen erlegen. Auch meinem Großvater mütterlicherseits, Selim, Jahrgang 1920, von Beruf Apotheker und später Drahtzieher mit eigener kleiner Werkstatt im Istanbuler Viertel Balat, war der legendäre Ruf der Metropoloe zu Ohren gekommen, ein Deutscher hatte ihn in der Werkstatt besucht und ihm avisiert, dass es in Almanya, genauer: in Hagen, für ihn Arbeit gebe. Er brauche nur dorthin zu gehen. Opa ging - allerdings wurde es nichts mit Hagen. Stattdessen holte er die Familie ein Jahr später in ein Dorf mit 40 Häusern nahe Düren nach und zog später gleich ganz in die Stadt, aus der Harald "Toni" Schumacher stammt. Es folgte eine lange, lange Karriere bei Ford.
Es gehört zu den Reichtümern meiner Jugend, dass ich Keser nicht weiter zu beachten brauchte. Denn bei meinem seinerzeit noch glorreichen, aber schon damals irgendwie zu erfolglosen 1. FC Köln spielten im Laufe meiner fußballerischen Sozialisation doch andere internationale Kaliber vor: besagter Toni Schumacher (Ehrenbürger Frankreichs), Roger van Gool (Belgien), Pierre Littbarski und Thomas Hässler (West-Berlin), Tony Woodcock (England), Paul Steiner (Blonder Hunne), Morten Olsen und Fleming Povlsen (Hygge) und natürlich die Allofs-Brüder (Düsseldorf!). Unvergessen das UEFA-Cup-Finalrückspiel 1986 in Berlin gegen Real Madrid (2:0, nach 1:5 im Hinspiel, verdammte zehn Minuten) oder die Materialschlacht gegen Roter Stern Belgrad im Herbst 1989.
Den für fußballaffine Domstädter beinahe obligatorischen, gar manisch-depressiven Hinweis, dass Deutschland es natürlich nur dem Genius von Franz Kremer zu verdanken hatte, im Jahre 1963 mit einer Bundesliga gesegnet zu werden, erspare ich mir und meinen Lesern. Kremer war Spiritus rector des 1.FC Köln, der seinerzeit als "Real Madrid des Westens" bekannt war. Zur Wahrheit gehört, dass so manche Mannschaft draußen bleiben musste, um einen westdeutschen Proporz der Regionen zu gewährleisten.
Erdal Keser war aber nicht der erste, heute quasi unbekannte Türke, der in der höchsten deutschen Spielklasse seine Meriten verdiente. Schon 1959 hatte Franz Kremer einen jungen türkischen Fußballer namens Coşkun Taş (sprich: Dschoschkun Tasch) verpflichtet. Der war 1959 als zweifacher türkischer Meister mit dem Schiff nach Venedig gekommen und dort in den Zug gestiegen, um in Deutschland für eine spätere Tätigkeit im türkischen Staatsdienst die obligatorische Fremdsprache zu lernen. Sein erster Weg führte ihn zum Geißbockheim. "Nach dem Probetraining beim FC habe ich einen Vertrag bekommen, pro Monat bekam ich 400 D-Mark. Nach ein paar Spielen hat mich jeder auf der Straße erkannt. Diskriminierung kannte ich nicht, es gab ja damals in Köln insgesamt nur 18 Türken, wie mir der türkische Generalkonsul erzählte." (Zitiert nach https://www.ksta.de/902742)
1960 spielte sich der Effzeh bis ins Endspiel um die Deutsche Meisterschaft, damals gab es die Bundesliga noch nicht. Bis dahin hatte Taş zur Stamm-Mannschaft gehört. „Im Finale in Frankfurt gegen den HSV wurde ich nicht aufgestellt, wir verloren 2:3“, zitiert ihn der Kölner Stadt-Anzeiger. "Später sagte man mir, Franz Kremer hätte angeordnet, dass in einem deutschen Finale nur Deutsche stehen sollen. Das hat mich schwer getroffen. Danach habe ich mich stärker auf meinen Beruf konzentriert und bin zu Ford gegangen." Bei Ford stieg Taş nach eigener Aussage erst zum Systemanalytiker und dann zum Supervisor für Verkaufsanalyse und Verkaufsplanung auf. (Zitiert nach https://www.ksta.de/12246786)
Recep (sprich: Rädschäpp) kam im September 1962 nach Deutschland. Recep ist der Name des ersten von drei heiligen Monaten im Islam, was auch immer man daran heilig finden kann. Ein Freund hatte Recep davon berichtet, dass Deutsche in Istanbul nach "Gastarbeitern" suchten. Doch Recep, der seine Militärzeit in Izmir absolviert hatte, hatte kein Geld, um die Reise anzutreten. "Was soll ich denn dort?", fragte er seinen Freund. Um sich dann, liebevoll beraten durch seinen Kumpel, doch ein paar Türkische Lira zu leihen für die Fahrt in die schon damals große Stadt links und rechts des Bosporus. Mit seinen 22 Jahren stand er gut im Saft. Nach einer erfolgreich verlaufenen Inspektion durch das Anwerbebüro des Auto-Riesen Ford durfte er in das "Land zwischen Bergen und Meer" reisen.
Wie Taş verschlug es auch Recep nach Köln. Eine Zeit lang arbeitete auch er bei Ford, ein riesiges Punktschweißgerät um den Körper geschunden. Später heuerte er gegenüber "beim Bayer" an. Sein Sprachtalent und die umgängliche Art führten dazu, dass er ziemlich schnell als Dolmetscher für seine Landsleute reüssierte. Noch später absolvierte Recep eine Lehre bei einer Kölner Spedition. Am Tag seiner Prüfung sagte ihm der Chef, dass er gebraucht würde und die Prüfung nicht so wichtig sei, "weil du schon mehr als drei Jahre hier bist und damit automatisch Speditionskaufmann". Recep ging nicht zur Prüfung.
Zum Glück war damals eine Zeit, in der man mit Persönlichkeit noch weit kommen konnte und ein fehlendes Zeugnis nicht gleich das Ende der Karriere bedeutete. Auch Recep gehörte zu jenen wenigen Türken, die in den 1960ern den Sprung in das Angestelltendasein geschafft hatten und letztlich bei den Rheinischen Olefin-Werken in Wesseling am Rhein den Rest seiner beruflichen Laufbahn verwaltete. Schlimm war nur, dass er ein Erfolgsfan war und dem "Real Madrid des Westens" verfiel. Diese Liebe gab er an seinen Sohn weiter.
Erdal Keser spielte 25 Mal für die Türkei und erzielte zwei Tore.
Alle Spiele zwischen Deutschland und der Türkei seit 1974: https://www.fussballdaten.de/vereine/deutschland/tuerkei/
Dem 5:1 der Deutschen im Freundschaftsspiel in West-Berlin 1983 hat Günter Wallraff in seinem Geschichte machenden Enthüllungsreport "Ganz unten" einige lesenswerte Zeilen gewidmet.
(In der Reihe 'A Beautiful Land' beschreibt der Autor seine Sozialisation als "deutschester Türke aller Zeiten" in einer Vorstadt der Millionenmetropole Köln.)



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