Die Letzten werden die Ersten sein
- Bülent Erdogan
- 9. Apr. 2018
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 10. Apr. 2019
In den vier Wochen Sommerurlaub in der Türkei lernte ich alljährlich viele neue Dinge kennen, zum Beispiel den Film "Bloodsport" mit einem gewissen Jean-Claude van Damme, die Beastie Boys, den örtlichen Luna Park und Limon Suyu (Limonenwasser). Oder River Raid. Und eine wichtige türkische Redewendung.

Zu den Lieblingsbeschäftigungen meines Bruders und mir im beschaulichen Çınarcık gehörte die Betätigung als Kampfjet-Pilot. Jedenfalls im "Cockpit" des Videospiel-Klassikers "River Raid" der Firma Activision aus dem Jahre 1982. Überhaupt lernte ich unterhaltungstechnisch in den vier Wochen in der Türkei alljährlich viele neue Dinge kennen, zum Beispiel den Film "Bloodsport" mit einem gewissen Jean-Claude van Damme, die Beastie Boys, den örtlichen Luna Park oder Limon Suyu (Limonenwasser). Heute geht es mir so mit Hard Facts. Die lese ich zuerst auf www.cumhuriyet.com.tr.
Krieg am Golf
Im Zuge der Auseinandersetzung hörte ich zum ersten Mal von einem Militärflughafen (im NATO-affinen Sprech von ARD und ZDF auch affirmativ "Luftwaffenstützpunkt" genannt) namens Incirlik (sprich: In-dschir-lik) im Südosten der Türkei.
In Deutschland war River Raid ab 1984 indiziert, womit den Machern dieselbe Ehre zuteil wurde wie Den Ärzten als einst "meistindizierter Band der Welt". Aufgabe des Piloten am Steuerknüppel war es, einen Fluß entlang zu fliegen und kaputt zu ballern, was sich einem da an Pixeln präsentierte. Bämbämbäm, links, rechts, Bämbäm, rechts, links! Scheiße, beim Ausweichmanöver im Tiefflug ans Ufer geschrammt, tot. Nun, die Grafikkarten waren damals noch nicht so mächtig, der Tod kam ohne Blut aus und es wurde lediglich das Kriegsgerät ausgeschaltet.
Ein ebensolches Bild eines Krieges bot sich dem Zuschauer Mitte Januar 1991. Damals begannen die Amerikaner die Bombardierung Bagdads und damit den Zweiten Golfkrieg. "Operation Desert Storm" nannte US-Präsident George Herbert Walker Bush (Vater Bush) die Intervention damals. Den Blutzoll am Boden zahlten die Irakis, Deutschland war der Krieg, also die personelle Nichtbeteiligung, einen Scheck in Höhe von etwa 18 Milliarden D-Mark wert.
Wir Gymnasiasten hatten kurz vor Ausbruch des Krieges noch eine Demo abgehalten gegen das bevorstehende Unheil. Auch ich ging mit, obwohl ich den Krieg wollte, weil er mir logisch erschien. Schließlich war Saddam Hussein, von 1980 bis 1988 noch ein hochgerüsteter Verbündeter des Westens im Abnutzungskrieg gegen Ayatollah Khomeini, mit seinen Truppen in Kuwait ("der verlorenen Provinz") einmarschiert und hatte mal so eben ein fremdes Land erobert. Folgerichtig hatten die Vereinten Nationen ein Ultimatum zum Abzug gesetzt. Wer nicht hören will, musste eben fühlen, empfand ich die Law-and-Order-Rhetorik als durchaus begründet. Im Zuge der Auseinandersetzung hörte ich zum ersten Mal von einem Militärflughafen (im NATO-affinen Sprech von ARD und ZDF auch affirmativ "Luftwaffenstützpunkt" genannt) namens Incirlik (sprich: In-dschir-lik) im Südosten der Türkei. Zum ersten Mal registrierte ich, dass die Türkei, in ihrer Funktion als Flugzeugträger, auch in deutschen Medien eine etwas ernsthaftere Beachtung fand.
Eine Tranche des Todes kam per Tomahawk-Marschflugkörper nach Bagdad (welch feine Ironie). Die grünen, monochromen Bilder, die von den Bombardements und den irakischen Flaks via CNN auch über unseren Bildschirm flimmerten, machten den Golfkrieg zu einem surrealen Video Game. Wie bestellt flogen die Tomahawks in das Blickfeld der CNN-Kameras, die US-Administration hatte sich dafür eigens das Label vom "chirurgischen Eingriff" ausgedacht, "embedded journalists" besorgten den Rest.
Es war einfach toll, auf der richtigen Seite zu stehen, auf der Seite der "Freien Welt". Meine Begeisterung kühlte aber schnell ab, denn Bush senior hatte nach der NIederlage der Irakis gar nicht vorgehabt, den Irak einzunehmen und den Menschen an Euphrat und Tigris die Demokratie westlichen Zuschnitts auf die Marktplätze zu liefern. Allerdings stand das auch nicht im Lastenheft der Kriegsermächtigung seitens der Vereinten Nationen. Die Mission des Demokratie-Exports wurde erst 2003 durch seinen Sohn "Accomplished". Mehr schlecht als recht, wie sich herausstellte.
Nach dem Engagement 1991 sollten irgendwann zudem verstörende Bilder aus der irakischen Wüste um die Welt gehen, mit Kolonnen zerstörter irakischer Einheiten. Aus der Öffnung eines Panzerfahrzeuges lugte gar noch ein skelettierter armer Teufel heraus. Die einst angeblich viertstärkste Armee der Welt war der Materialschlacht nicht gewachsen gewesen, zumindest nicht dem Erdkampfflugzeug A 10, auch "Warzenschwein" genannt.
River Raid war ein wirklich packendes Spiel, die Jetons flogen nur so in die Maschine. Abends konnte ich vor lauter Flashs kaum einschlafen. Ständig flirrte das Bild vor meinem inneren Auge und mischte sich in die ersten Traumszenen. Es kam mir vor, als fiele ich aus dem Bett, mein Körper zuckte, wenn ich die Schwenks des Kampfjets mitging. Jahre später sollte der Egoshooter Doom auf dem Commodore Amiga 500 ähnliche, teils beängstigende Schlafprobleme in mir auslösen.
Wenn ich das Flimmern dann erfolgreich vertrieben hatte, fraß mich die Leere im Kopf auf, die viel Platz bot für den Countdown, mit dem ich meine Mutter jeden Abend wie ein böser Geist verfolgte. Wie oft noch schlafen, bis es wieder nach Hause geht, wie viele Tage noch herumkriegen? Noch 25 Tage. Noch 24. Noch 18. Noch elf. Noch sieben. Nur noch vier. Übermorgen geht es los! Geduld ist eine Tugend der Ohnmächtigen.
Direkt neben dem Videospiele-Tempel hatte der Pizzabäcker seinen Laden. Pizza, das bedeutete in meinem Leben bis 1989 türkische Pizza, also Lahmacun (sprich: La-ch-madschun). Die Aussprache wäre egal gewesen, hätte ich dem freundlichen hageren Mann von der Schwarzmeerküste mit den tiefschwarzen Haaren die Bestellung aufgegeben, die Teigfladen entgegengenommen und mit diversen, inzwischen inflationären Lira-Scheinen bezahlt. Ich war allerdings komplett hilflos, denn ich sprach quasi gar kein Türkisch in zusammenhängenden Sätzen, wenn ich auch das eine oder andere verstand oder mir das einbildete.
Hilflos im Pizza-Laden
An dem Abend lernte ich, was es heißt, wenn man sagen will: Ich bin an der Reihe (Sira bende = (Die) Reihe ich (bei mir)(ist))! Dieser Satz blieb einer meiner wenigen vollen Sätze jener Tage.
Meinen Vater focht dieses kleine Detail nicht an und so hatte er mich die Straße hinuntergeschickt, links am großen Felsen vorbei, zum Lahmacun-Mann, um das Abendessen zu holen. Obwohl kaufmännisch vorgebildet, hatte mein Vater die Rechnung ohne seinen Erstgeborenen gemacht. Da stand ich vor dem Tresen und wusste nicht, was ich sagen sollte und wie ich meine Message an den Mann bringen konnte. Ich wollte, aber ich konnte nicht, es ging nicht vor und nicht zurück. Ein Kunde nach dem anderen machte einen Bogen um mich oder ignorierte mich gleich ganz und gab sein Sipariş ab (sprich: Ssiparisch), gab also seine Bestellung auf und zog mit lecker duftendem Lahmacun oder Käse-Schiffchen wieder von dannen. Im Laden neben mir zockten sie River Raid und ballerten mit dem Kriegsgott um die Wette. Ich aber starrte wie das Kaninchen auf die Schlange, so als wäre als nächstes ich an der Reihe, vom netten Mann in den Holzofen geschoben zu werden.
Irgendwann muss meinem Vater der Magen auf Höhe der Zehen geplumpst sein, denn er trat plötzlich höchst persönlich in den Laden ein und erkundigte sich, warum ich denn nicht mit den Hackfleisch-Pizzen schon längst wieder zuhause sei. Er nahm ein Kind entgegen, das beinahe den Laden unter Wasser gesetzt hätte. An dem Abend lernte ich, was es heißt, wenn man sagen will: Ich bin an der Reihe (Sira bende = (Die) Reihe ich (bei mir)(ist))! Dieser Satz blieb einer meiner wenigen vollen Sätze jener Tage.
(In der Reihe 'A Beautiful Land' beschreibt der Autor seine Sozialisation als "deutschester Türke aller Zeiten" in einer Vorstadt der Millionenmetropole Köln.)
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