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"Jens, sage mir den Blutdruck"

  • Autorenbild: Bülent Erdogan
    Bülent Erdogan
  • 30. März 2019
  • 8 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 16. Juli 2019

13 Jahre lässt sie nun schon auf sich warten: die Telematikinfrastruktur im Gesundheitswesen. Nun hat Bundesgesundheitminister Jens Spahn die Daumenschrauben angezogen, damit die elektronische Gesundheitsakte auch wirklich kommt. Ich wage, dem Minister sei es gedankt, gesundheitlich schon einmal einen Blick in die digitale Zukunft.


Auch ich werde nicht jünger. Bislang konnte ich die "intermittierende Medizin" (Eric Topol) auf wirklich kurze Episoden begrenzen. Aber machen wir uns nichts vor, die Zeit wird kommen, in der ich Stammgast im Wartezimmer sein werde. Wäre es nicht toll, wenn ich stattdessen meinen Haus- und Leibarzt immer um mich herum wüsste? Ja, das hätte was. Und mit Künstlicher Intelligenz müsste sich doch etwas machen lassen, oder? Also, dann mal Butter bei die Fische: Wie sähe mein Setup für einen elektronischen Gesundheitsassistenten aus, den ich bei Bedarf und unter strenger Anonymisierung an eine Gesundheitsinformationsstruktur andocken würde? Im Wesentlichen würde es aus folgenden Komponenten bestehen: ein Heimlabor, einen 3D-Avatar (muss man das heute noch explizit erklären?), Service-Displays in der Wohnung, einen Sensor (zusätzlich bei Bedarf Wearables oder Pflaster für weitere Anwendungen) und eine Patientenakte. Alle diese Komponenten führen zu einer Anwendung, die ich als Assistenten oder Counselor bezeichnen werde - um es ganz konkret zu machen, mein Avatar soll Jens heißen.



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1. An einem Platz in der Wohnung steht ein kleines Nachttisch-Labor, wie wir es von einigen Teilnehmern des XPrize Tricorder-Wettbewerbs schon kennen. Dieses Labor ist über ein Kabel mit einem Router verbunden, der als Firewall dient. Da nicht zu erwarten ist, dass ein Sensor-Armband schon alles kann, was ich im späteren Verlauf als Basics ansprechen werde, setze ich bis auf Weiteres auf ein Device unter der Haut, nennen wir es einen Chip. Dieser erfasst, möglichst evidenzbasiert, die medizinisch aussagestärksten Parameter des Geschehens in meinem Körper (Der Traum lebt jedenfalls, siehe https://www.spektrum.de/news/elektronik-die-unter-die-haut-geht/1412927). Das Labor kann von mir selbst bedient werden, um weitere Informationen einzuholen und zu verknüpfen. Der Chip sendet die Daten auf meinen Knopfdruck an der Laboreinheit per Bluetooth an dieses – und nicht per WLAN. Und er muss regelmäßig per Induktor aufgeladen werden (bei einer Smart Watch würde dieser Schritt natürlich entfallen). Neben der begrenzten Reichweite gibt mir das die physische Kontrolle über ihn, ohne ihn gleich panisch herausschneiden zu müssen – ohne nachgeladenen Akku keine Funktion.

2. Mein Assistent gehorcht folgendem Grundsatz: Er wird mich niemals überstimmen oder gar lenken wollen oder gegen meinen Willen mit Dritten kommunizieren in der Absicht, meinen Willen zu umgehen, zu konterkarieren oder zu manipulieren. Allerdings kann ich auf einer Skala zwischen „-3 und +3“ einstellen, wie defensiv oder offensiv mein Assistent mit mir über gesundheitliche oder präventive Themen kommuniziert. „-3“ bedeutet dabei, dass ich den Kontakt mit dem Thema Gesundheit so lange vermeide, bis der Vernichtungsschmerz durch ein Bauchaorten-Aneurysma alles zu spät sein lässt (Die Erwähnung an dieser Stelle mag dem einen oder anderen als polemisch erscheinen, im allgemeineren Kontext möchte ich aber auf Choosing Wisely-Kampagnen von Medizinern und Wissenschaftlern verweisen). Bei „+3“ schläft der Online-Doc quasi mit im Bett. An welchen validen Erkenntnissen mein Assistent diese Skala ausrichten kann, das soll ihm ein Board international rennommierter, selbstverständlich völlig unabhängiger Mediziner und Patientenvertreter nahebringen.

3. Ich wünsche mir einen Assistenten, der mittels zentraler Displays in der Wohnung im Notfall als Counselor agiert. Wenn sich zum Beispiel das Baby verschluckt und zu ersticken droht, dann aktiviere ich meinen Assistenten, in etwa so wie einst Captain Jean-Luc Picard den „Computer“ anrief. Dieser, eventuell als Avatar in den Raum projiziert, stellt mir das korrekte Notfallprotokoll vor und kontrolliert und kommentiert, sofern möglich, ob ich es einhalte. Alternativ dazu ziehe ich eine am Display deponierte VR-Brille an und tauche gemeinsam mit dem Avatar in die reale Situation ein. Mit turnusmäßigen Updates meines Systems stelle ich sicher, dass die Notfallprotokolle up-to-date sind. Gern frische ich mit meinem Assistenten auch meine Erste-Hilfe-Kenntnisse auf. Bis auf den Download der Daten soll das alles offline funktionieren. Auf meinen Zuruf hin meldet der Assistent den Notfall derweil der Rettungsleitstelle.

4. Ich möchte immer kontrollieren können, ob die Kamera und das Mikrofon meines Counselors im Dienst sind. Das jeweilige Display ist von einem abschirmenden Metallgehäuse umgeben, schließe ich dieses, können Kamera und Mikro des Displays nichts mehr aufnehmen und aufzeichnen.

5. Ich wünsche mir einen Assistenten, der erkennt, ob ich über einen längeren Zeitraum zu viel Salz oder (Trans-)Fett oder Eiweiß oder „leeren“ Industriezucker zu mir nehme, an welchem Wert man dies auch immer feststellen kann. Ich möchte über meinen Vitamin- und Spurenelementehaushalt Auskunft erhalten. Und darüber, ob meine Ess-Intervalle anhand meiner Körpermerkmale zur Prognose Anlass geben, das sogenannte gefährliche Bauchfett anzusetzen. Oder ob mein Lightgetränke-Konsum noch in Ordnung geht oder sich schon Probleme ankündigen.

6. Vielleicht kann mein Assistent auch besondere Anfragen an die Mini-Untersuchungs-Kapseln richten, die ich alle fünf Jahre zur Gastro- und Koloskopie schlucke. In Kombination mit einem EKG-Shirt mache ich in jedem Frühjahr meinen Fitness-Check, der mich davor bewahrt, untrainiert mein Herz zu überfordern.

7. Im Sinne eines dezenten und humorvollen Nudgings kann mich mein Assistent durchaus darauf hinweisen, wie viele Hirnzellen ich rechnerisch mit den zwei Flaschen Bier in der Woche gekillt habe und warum ich meine Träume vom Pulitzer- oder Physiknobelpreis nun begraben kann. Allerdings erwarte ich von einem intelligenten Assistenten auch, dass er den positiven Nutzen des moderaten Genusses von Bier in seine Bewertungen einfließen lässt. Wie wir alle inzwischen wissen, machen zumindest Kölsch und Ambroisianum nämlich glücklich, und das liegt eben nicht nur am Fusel.

8. Ich wünsche mir einen Assistenten, der zum Beispiel anhand eines Fotos erkennt, ob die Hautveränderung ein Grund sein könnte, einen Arzt meiner Wahl zu konsultieren – gern auch online (Natürlich müssen wir darauf gefasst sein, dass ein massenhafter Ansturm auf Ärzte via Online-Sprechstunde eben auch dort Wartezeiten auslösen kann. Wenn die Kapazität, also die "Arztzeit", nicht „mitsteigt“, kann das passieren, was passionierte Radfahrer in fortschrittlichen Städten wie Kopenhagen teils schon erleben: Sie stehen im Pulk an der roten Ampel im Stau und müssen geduldig warten, bis der Tross sich mühsam, einer nach dem anderen, in Bewegung setzt. Immerhin ist es trotz allem besser für die Gesundheit). Und der die eigene, datenbankbasierte Einschätzung im Gespräch mit dem Doktor fachlich valide vortragen hilft.

9. Ich wünsche mir einen Assistenten, der mir mitteilt, ob angesichts persönlicher wie von Kohorten-Parametern eher damit zu rechnen ist, dass der langsam wachsende Prostata-Tumor mich überlebt und daher doch eine Therapie angesagt sein könnte oder ob ich ihm mit meinem Ableben zuvorkomme und er mit mir unerkannt verwest. Die Nachwelt kann testamentarisch dann von mir aus per Transfer der Daten an ein Register erfahren, wer die Wette gewonnen hat, mein Assistent oder ich (http://www.degum.de/aktuelles/presse-medien/pressemitteilungen/im-detail/news/krebs-diagnostik.html).

10. Darüber hinausgehend möchte ich meinen Assistenten generell dahingehend einstellen können, ob ich über einen Verdacht auf eine irreversible Erkrankung mit infauster Prognose informiert werden möchte oder eben nicht. Bei Erkrankungen, die sich auf meinen Sohn ableiten lassen, stellen sich wiederum Fragen, die eventuell ihn und seine Zukunft betreffen. Hier ist das letzte ethische Wort noch nicht gesprochen, mir jedenfalls ist keine allgemeingültige Antwort hierauf bekannt.

11. Ich wünsche mir einen Assistenten, der mir sagen kann, ob ich gegen die wichtigsten Infektionskrankheiten noch ausreichend Impfschutz aufbiete. Falls dem nicht so ist, so wünsche ich mir, dass mein Assistent ganz ohne Telefonakquise meinerseits Impftermine eruiert. Doch, halt: lieber telefoniere ich mit meiner Hausärztin statt über diese Services doch zu sehr in ein zentrales System eingebunden zu werden.

12. Noch bin ich als Mitvierziger komplett medikationsfrei, aber falls dem eines Tages nicht mehr so sein wird, wünsche ich mir einen Assistenten, der mich an die richtige Einnahme und die Intervalle erinnert. Mein Chip oder Labor kann bei als wichtig erachteten Therapien auch den Arzneimittelspiegel in meinem Körper bestimmen - oder welches Antibiotikum für die aktuelle Infektion angezeigt ist (und welches nicht in Frage kommt, wenn ich doch einmal eine Unverträglichkeit entwickeln sollte).


Ob ich mir einen Assistenten wünschen soll, der auch eine depressive Episode oder einen Bore Out voraussehen kann - und es mir dann auch mitteilt?

13. Mein Assistent soll aus den Erfahrungen, die er mit mir gemeinsam macht, Rückschlüsse ziehen, die Prognosen erlauben. Für diese Prognosen soll er aus allen verfügbaren semantisch erschließbaren Quellen Informationen auswerten, bewerten und, sofern notwendig, Verknüpfungen herstellen. Im Idealfall wird mir mein Assistent zum Beispiel eines Tages sagen können, dass ich wegen meines grippalen Infektes nicht erneut zum Arzt laufen muss, weil meine Rekonvaleszenz bei den letzten zehn Erkrankungen genauso lang oder kurz war wie die nun zu erwartende elfte Rekonvaleszenz ohne Arztbesuch. Oder er wird mir darlegen, dass es so nicht weitergehen kann und ich endlich zum Arzt gehen muss, um die drohende Superinfektion zu vermeiden. Schließlich zählte ich ja keine 20 Lenze mehr, sondern 44. Grundlage für diese Prognose bilden für meinen Assistenten meine Daten sowie die Daten einer vergleichbaren männlichen Patientenanzahl.

14. In meiner Patientenakte sind wesentliche gesundheitliche Informationen vermerkt: Blutgruppe, Impfstatus, Allergien, Kontaktperson, Hausarzt (sofern es noch einen (stationären) gibt). Ich entscheide des Weiteren, ob ich Medikamente, letzte Krankenhausaufenthalte, chronische oder schwere Erkrankungen aufnehme, ebenso darüber, ob ich eine Patientenverfügung dort ablege oder den Fundort angebe oder meine Bereitschaft zur oder die Ablehnung einer Organ- oder Gewebespende dokumentiere. Ich kann mit einem einfachen Befehl alle Daten (für mich) wiederherstellungssicher und in Echtzeit löschen.

15. Für den Fall, dass ich eine chronische Erkrankung entwickele, wünsche ich mir eine Datenbank, aus der ich zum Beispiel vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) evaluierte, qualitätsgesicherte Informationen in meinen Assistenten einspeisen kann, die dieser für mich handlungsanleitend und motivierend audiovisuell aufbereitet. Wie wäre es mit den Erkrankungen, die den Morbi-RSA auslösen?

16. Ich wünsche mir einen Assistenten für mein Kind, der mich (beziehungsweise den Kinderarzt bei der Sprechstunde) an den Zeckenbiss im Bergischen von vor sechs Wochen erinnert, wenn mein Kind plötzlich über für mich inzwischen unerklärliche Symptome klagt, weil ich eben den Biss nicht mehr im Kopf habe.

17. Bei all diesen Aspekten geht es mir im Grunde genommen darum, dass alle Informationen, die vorhanden und bewertbar sind, zumindest in Betracht gezogen werden. Dabei ist die Kautele zu reflektieren, dass KI auf semantischer Basis nur das erfassen kann, was ihr in geeigneter Form vorliegt.

Bei allem stellt sich auch die Frage, wie viel technologischer Aufwand für welches Resultat noch als sinnvoll erachtet werden kann? Und ob es nicht sinnvoller sein kann, statt in einen Reparaturbetrieb, die SGB-V-Garage, in ein gesundes (Arbeits-)Leben zu investieren.

18. Viele Hinweise liegen bereits vor, das sind zum Beispiel die BQS-Daten. Ich möchte zumindest wissen, ob ein Krankenhaus eine überdurchschnittlich hohe Komplikations- oder gar Mortalitätsrate aufweist und Rehospitalisierungen an der Tagesordnung sind. Hierüber soll mein Assistent mir Auskunft geben können. Ich kann dann immer noch eruieren, ob die höheren Raten unerwünschter Ereignisse daraus resultieren, dass die Patienten von Klinik X im Schnitt kränker sind und kompliziertere Operationen benötigen und die Risikoadjustierung nicht ausreichend war. Oder ob dort eine Klinik agiert, die eben nicht auf ärztlich als sinnhaft erachtete Mindestmengen kommt. Wie so oft, so steht auch hier die Frage nach Ursache und Wirkung im Raume (https://www.barmer.de/presse/infothek/studien-und-reports/krankenhausreport; und für die andere Perspektive: https://www.dkgev.de/dkg.php/cat/38/aid/40241).

19. Ob ich mir einen Assistenten wünschen soll, der auch eine depressive Episode oder einen Bore Out voraussehen kann - und es mir dann auch mitteilt? Ich weiß es nicht. Ob mein Assistent wegen der Wechselwirkung zwischen Beziehung und Gesundheit auch Partnerberatung anbieten sollte, wenn er es könnte?

Epilog

Eine Medaille hat bekanntlich zwei Seiten. Die sechs Seiten eines Würfels will ich an dieser Stelle lieber nicht bemühen, auch wenn mir mindestens sechs Dimensionen für das Gesundheitswesen als etwas zielführender erscheinen. Die Seite des an seinem Wohlbefinden interessierten Menschen und Patienten in spe habe ich oben kurz angerissen. Auf der anderen Seite der Medaille stehen diejenigen, die mir später einmal Therapien angedeihen lassen möchten. Vorstellbar und teils schon Realität sind Formen der digitalen Unterstützung und des Counselings. Das könnte schon in der Ausbildung beginnen, wenn Lehrinhalte dreidimensional aufbereitet werden. Im späteren Arzt-Patient-Kontakt könnte ein Counselor als Coach/Partner/Reminder für bestimmte Kommunikationssituationen dienen. Das betrifft zum Beispiel das in der Regel in der Kindheit abtrainierte Stellen offener Fragen („Wieso, weshalb, warum? Wer nicht fragt, bleibt dumm“) oder den geschickten Einsatz von Pausen, Paraphrase, Echoing, Zusammenfassung, Behandlungsvertrag, auf den es eben ankommen kann, wenn der Kontakt mit dem Patienten erfolgreich verlaufen soll. Lässt sich durch digitale Unterstützung eventuell „Arztzeit“ zurückgewinnen?

Bei allem stellt sich auch die Frage, wie viel technologischer Aufwand für welches Resultat noch als sinnvoll erachtet werden kann? Und ob es nicht sinnvoller sein kann, statt in einen Reparaturbetrieb, die SGB-V-Garage, in ein gesundes (Arbeits-)Leben zu investieren, also in gehorsamsfreie Erziehung, in eine andere Schulbildung und Ausbildung, in als lohnend empfundenes tägliches Tagwerk und Phasen der Erholung und Sinnsuche oder -bestätigung, in gesunde Städte, in eine als gerecht empfundene Gesellschaft, in internationale Gerechtigkeit? Die Weltgesundheitsorganisation WHO jedenfalls geht in einer Schätzung für das Jahr 2012 von mehr als zwölf Millionen Toten in Folge solcher exogener Faktoren weltweit aus, davon circa 1,4 Millionen in Europa. Weltweit wäre das mehr als jeder fünfte Todesfall. 85 der 102 großen Erkrankungen („major diseases“), die im Weltgesundheitsreport beleuchtet werden, seien zumindest teilweise auf Umwelteinflüsse zurückzuführen. So sollen laut einer Analyse der Global Burden of Disease-Studie etwa 30 Prozent aller durch Schlaganfall verlorenen gesunden Lebens- jahre weltweit mit der Luftverschmutzung in Umwelt und Haushalten assoziiert sein (Lancet Neurology, 2016; doi: 10.1016/ S1474-4422(16) 30073-4).

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