Rassismus und seine Funktionen
- Bülent Erdogan
- 4. Juni 2020
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 22. Aug. 2021
George Floyd ist tot. Er ist eines von unzähligen Opfern einer Technik und Herrschaftsform, die eine totale Vorherrschaft der einen über die anderen möglich macht. In "Kritik der schwarzen Vernunft" hat Achille Mbembe viele der Muster, Voraussetzungen und Folgen des institutionalisierten Rassismus unterschiedlicher Epochen beschrieben.

Aus "Kritik der schwarzen Vernunft"; Seitenzahl; Inhalt/Zitat:
46: „Der Neger ist in der Tat das Räderwerk, das in Gestalt der Plantage die damals effizienteste Form der Akkumulation von Reichtum zu erschaffen erlaubte und so die Integration des Handelskapitalismus, des Einsatzes von Maschinen und der Kontrolle über abhängige Arbeit beschleunigte.“
50: Der Schutz als Währung der Staatsbürgerschaft >> Kontrolle der Ströme und Mobilität
51: „Der Schutz selbst ist nicht mehr nur eine Frage der Gesetze. Er ist zu einer biopolitischen Frage geworden. Die neuen Sicherheitsinstrumente greifen nicht nur Elemente früherer Regime wieder auf (Disziplinierungs- und Strafregime im Rahmen der Sklaverei, Elemente der kolonialen Eroberungs- und Okkupationskriege, juristisch-gesetzliche Ausnahmeregelungen), die auf nanozellularer Ebene im Rahmen von Taktiken des Genomzeitalters und des >>Krieges gegen den Terror<< eingesetzt werden, sondern auch Techniken aus den in der Epoche der Entkolonisierung gegen Aufständische geführten Krieges, aus den >>schmutzigen Kriegen<< des Ost-West-Konflikts (Algerien, Vietnam, südliches Afrika, Burma, Nicaragua) und den Erfahrungen bei der Institutionalisierung räuberischer Diktaturen unter dem Druck oder mit Hilfe westlicher Geheimdienste in aller Welt.“
53: Geheimdienste sind nicht mehr rein staatlich, sie müssen private Fähigkeiten aufnehmen, während Großunternehmen die notwendigen Daten sammeln müssen für die Massenüberwachung. „Die Vernetzung der marktwirtschaftlichen und staatlichen Apparate ist sicher nicht total. Aber unter den gegenwärtigen Bedingungen erleichtert sie die Umwandlung des liberalen Staates in eine Kriegsmacht und das zu einer Zeit, da das Kapital, wie man nun feststellt, niemals aus der Phase der ursprünglichen Akkumulation herauskommt, sondern dazu immer noch auf rassische Hilfsmittel zurückgreift.“
55: „Allenthalben greift man erneut auf die Verfahren der Differenzierung, Klassifizierung und Hierarchisierung zurück, die auf Ausschluss, Vertreibung oder sogar Vernichtung zielen. Erneut werden Stimmen laut, die erklären, das universell Menschliche gebe es nicht oder es beschränke sich auf etwas, das nicht allen Menschen, sondern nur bestimmten unter ihnen gemeinsam sei.“
60: Das Denken an den Exodus, in drei Projekten
71: „Zu den Merkmalen der Rasse und des Rassismus gehört auch das Bestreben, stets einen Doppelgänger, einen Ersatz, ein Äquivalent, eine Maske, ein simulacrum hervorzuholen oder zu erzeugen. Sobald sich ein authentisches menschliches Gesicht zeigt, bemüht sich der Rassismus, es in den Hintergrund zu drängen oder mit einem Schleier zu verhüllen.“
73: „Wer einer Rasse zugeordnet wird, ist nicht passiv. In einer Sihouette gefangen, wird er von seinem Wesen getrennt. Nach Fanon liegt einer der Gründe für das Elend seines Daseins darin, dass er diese Absonderung als sein wirkliches Sein erlebt, dass er den hasst, der er ist, und dass er der zu sein versucht, der er nicht ist.“ Anm.: das ist in gewisser Weise auch als Kritik an der Assimilation wertbar.
76: Die Rasse erlaubt es, „das Überschüssige zu benennen und es zugleich dem Bereich der Verschwendung und rückhaltlosen Verausgabung zuzuweisen.“ Die Rasse ist also ein Instrument, mit dem Menschen andere Menschen ausbeuten und vernichten können und dafür noch eine ideologische Rechtfertigung haben.
78: „Die rassistische Logik setzt ein beträchtliches Maß an Niedertracht und Dummheit voraus.“ Sie ist nach Bataille auch eine Form von Feigheit.
79: Rassismus ist nicht einfach eine klassenbedingte Beschädigung, sondern mehr: „Gewiss, Rasse und Rassismus hängen mit Antagonismen zusammen, die auf der ökonomischen Struktur der Gesellschaft basieren. Aber es stimmt nicht, dass die Umwandlung dieser Struktur unausweichlich den Rassismus zum Verschwinden brächte. In weiten Teilen der modernen Geschichte bestand zwischen Rasse und Klasse ein Verhältnis der gemeinsamen Herausbildung. Insofern waren das Plantagen- und das Kolonialsystem geradezu Fabriken der Rasse und des Rassismus. Vor allem der >>kleine Weiße<< konnte das Gefühl haben, ein Mensch zu sein, wenn er die Unterschiede zwischen ihm und dem Neger kultivierte. Das rassistische Subjekt sieht das eigene Menschsein nicht in dem, was es mit den anderen gleich macht, sondern in dem, was es von ihnen unterscheidet.“
126: Das koloniale Projekt wird von einer Rassenkunde gespeist, die darum kreist, eine Rasse von Giganten zu schaffen (ein Eckpfeiler).
137: Selbstverblendung und Politik der Unwissenheit: „Der zweite Eckpfeiler des imperialen Bewusstseins war von jeher der gewaltige Wille zur Unwissenheit, der sich aber als Wissen versteht. Die hier gemeinte Unwissenheit ist von besonderer Art - eine ungenierte und frivole Unwissenheit, die von vornherein jede Möglichkeit einer Begegnung und Beziehung ausschließt, die nicht auf Gewalt beruht.“
147: Voltaires Pejoration der Neger
154: Die Gleichzeitigkeit von Merkantilismus und Völkerrecht, von Bürgerlichem Recht und Kosmopolitischem Recht
156: „Die permanente Erregung, bei der das Thema der Gefahr und der Bedrohung immer wieder aktualisiert und in Umlauf gebracht wird, und damit auch die Stimulierung einer Kultur der Angst gehören zu den Triebkräften des Liberalismus.“ Und: „Die Folge dieser Angst war stets, wie Foucault anmerkt, die gewaltige Ausweitung von Verfahren der Kontrolle, der Beschränkung und des Zwangs, die keineswegs Verirrungen darstellen, sondern das Gegenstück der Freiheiten bildeten.“
178: Alex Crummel und die Behauptung des Todeswunsches der Neger durch den beständigen Blick auf die Vergangenheit.
184: Das Christentum ersetzt den kriegerischen Charakter des Islam durch eine andere Form von Gewalt: „die der Barmherzigkeit und des Mitgefühls“. In Afrika bietet das Christentum den Eingeborenen das Versprechen eines neuen Lebens an.
185: Der Kolonialismus formalisiert Staat und Markt. Der Staat zunächst in der primitiven Form des Kommandos, bevor er sich in ein Mittel zur Zivilisierung der Sitten verwandelt. Der Markt in seiner primitivsten Form findet Eingang die autochthone Vorstellungswelt in seiner widerlichsten Gestalt: als Menschenhandel. Nach dem Zweiten Weltkrieg wird der Kolonialismus dem Kolonisierten drei weitere Güter vor Augen führen: Bürgerrecht, Nation und Zivilgesellschaft. „Bis in eine Endphase hinein wird er ihnen jedoch den Zugang dazu verwehren.“
199: Die Gewalt des Kolonialismus besitzt drei Dimensionen: Als Gewalt im Alltag, als Gewalt gegen die Vergangenheit des Kolonisierten, als Gewalt und „Affront“ gegen die Zukunft, da sich der K. als ewig proklamieren muss.
204: Mbembe zitiert Fanon: „Einen Kolonialismus ohne die Möglichkeit, zu foltern, zu vergewaltigen oder zu massakrieren, kann es nicht geben. Die Folterung ist eine der Formen der Beziehung zwischen Okkupant und Okkupierten.“
211: In der Kolonie ist derjenige der Souverän, der darüber entscheiden kann, „was sichtbar ist und was unsichtbar bleiben soll“.
216: „Das phantasmatische Dispositiv des Potentaten ruht also auf zwei Pfeilern: auf der Regulierung der Bedürfnisse und auf der Regulierung der Ströme des Begehrens. Zwischen beiden steht die Ware - und insbesondere solche Waren, die der Kolonisierte bewundert und die er gern hätte.“
224: „Wenn es ein kleines Geheimnis des Kolonie gibt, so liegt es also in der Unterjochung des Eingeborenen durch sein Begehren.“
241: „Die kolonialen Statuen und Monumente haben also die Aufgabe, auf der Bühne der Gegenwart Tote erscheinen zu lassen, die zu ihren Lebzeiten den Negern - oft mit dem Schwert - das Leben zur Qual gemacht haben.“
271: Die Geschichte von dem Mann mit dem Sack, der andere dazu bringt, diesen Sack in die Stadt zu bringen, ohne vorher hineinzuschauen. Darin der Leib des toten Prinzen.
280: Der Neger „gehört“ seinem Herrn. „Der Herr verleiht dem Neger seine Form, und dieser nimmt durch die Zerstörung und Sprengung seiner früheren Form erst Form an. Außerhalb dieser Dialektik des Besitzens, des Gehörens und der Formung gibt es keinen „Neger“ als solchen.“
281: Rassengewalt hat drei Ziele: erstens Schwächung der Fähigkeit des Negers zur sozialen Reproduktion, zweitens das Ziel den Körper zu lähmen „und nötigenfalls zu zerbrechen. Drittens schließlich griff die Rassengewalt das Nervensystem an und versuchte, die Fähigkeit ihrer Opfer zur Schaffung ihrer eigenen Symbolwelten auszutrocknen. Da ihre Kraft die meiste Zeit aufs pure Überleben gerichtet war, konnten sie ihr Leben notgedrungen nur im Modus der Wiederholung leben.“ Und der Plantagenherr hatte die Gewalt über die Zukunft.
289: Aimé Césaire. „…dass niemand schuldlos kolonisiert, dass auch niemand ungestraft kolonisierte, dass eine Nation, die kolonisiert, dass eine Zivilisation, welche die Kolonisation - also die Gewalt - rechtfertigt, bereits eine kranke Zivilisation, eine moralisch angefaulte Zivilisation ist, die zwangsläufig, von Konsequenz zu Konsequenz und von Verleugnung zu Verleugnung, nach ihrem Hitler, das heißt nach ihrer Bestrafung ruft.“
301: Auch die Psyche des Kolonisierten wurde nicht ausgespart, „denn die Gewalt zielte auf nicht mehr und nicht weniger als seine Verblödung“.
308f: Der Kampf nach Fanon.
314: Das Faszinosum an Mandela, sein Mythos: „Seine Wahl führte ihn an den Rand des Abgrunds. Er begeisterte die Welt, weil er lebendig aus dem Reich des Schattens zurückkehrte, eine aufschießende Kraft am Abend eines alternden Jahrhunderts, das nicht mehr zu träumen verstand.“
322: „Die Umwandlung Europas in eine Festung etwa und die gegen Ausländer gerichteten Gesetze, die auf dem alten Kontinent zu Beginn dieses Jahrhunderts verabschiedet wurden, haben ihre Wurzeln in einer Ideologie der Selektion zwischen verschiedenen Menschenarten, die man allerdings eher schlecht als gut zu maskieren versucht.“
322: Die Akzeptanz von Andersartigkeit als Antipode zum Rassismus kann nur dann wachsen, wenn die Protagonisten positive Bilder von Gerechtigkeit, Würde und Gemeinsamkeit bieten können und einen Weg hierzu ebnen.
323: „Auf diesem Weg sind die neuen >>Verdammten dieser Erde<< jene, denen das Recht auf Rechte verwehrt bleibt; von denen man meint, sie sollten sich nicht rühren; die zu einem Leben in Einschließungsstrukturen der unterschiedlichsten Art verdammt sind - in den Lagern und Durchgangslagern und Haftanstalten aller Art, von denen der Raum unserer Justiz und Polizei durchsetzt ist. Es sind die Vertriebenen, die Deportierten, die Ausgestoßenen, die illegalen Ausländer jeglicher Art - diese Eindringlinge und aus unserer Menschheit Zurückgewiesenen, die wir eilig loswerden wollen, weil wir glauben, dass es zwischen ihnen und uns nichts gibt, was sich zu retten lohnte, da sie für unser Leben, unsere Gesundheit und unser Wohlergehen zutiefst schädlich seien. Die neuen >>Verdammten dieser Erde<< sind das Ergebnis einer brutalen Kontrolle und Selektion, deren rassische Grundlagen bestens bekannt sind.“
325: „Triebfeder und Urtrieb des Kapitalismus ist der Drang zur grenzenlosen Überschreitung jeglichen Verbots und zur Aufhebung jeglichen Unterschieds zwischen Mittel und Zweck. In seinem dunklen Glanz ist der Negersklave - das allererste Rassensubjekt - das Produkt dieser beiden Triebe, die manifeste Gestalt dieser Möglichkeit einer hemmungslosen Gewalt und einer grenzenlosen Ungewissheit.“
329: Das Leben ist unvergänglich und unverweslich. Es überlebt alles. „Unter diesen Umständen ist es ganz vergeblich, Grenzen zu ziehen, Mauern und Einfriedungen zu bauen, zu zergliedern, zu klassifizieren, zu hierarchisieren oder solche von der Menschheit auszugrenzen, die man abwerten möchte, die man verachtet, die uns nicht ähnlich sind oder mit denen wir uns, wie wir meinen, niemals verstehen werden. Es gibt nur eine Welt, und auf die haben wir alle ein Anrecht. Diese Welt gehört uns allen gleichermaßen, und wir alle sind ihre Miterben, auch wenn wir nicht in derselben Weise darin leben - daher ja gerade die reale Vielfalt der Kulturen und Lebensweisen.“
332: „Oft entsteht das Verlangen nach Unterscheidung gerade dort, wo eine Erfahrung des Ausschlusses besonders intensiv erlebt wird.“
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