Es ist mal wieder Sommerloch
- Bülent Erdogan
- 6. Aug. 2019
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 23. Aug. 2019
Schon wieder der Ausländer: Dieses Mal im Gewand ignoranter Kinder, die sich dem Deutschen verweigern. Doch wäre alle Aufregung vergeblich, und so ist der Amygdala Hijack abgesagt.

Die folgenden Zeilen sind ungerecht und polemisch (und wahrscheinlich doch nicht): Als Sohn türkischer Gastarbeiter habe ich einige Zeit damit verbracht, mir über DIE Deutschen, DIE Türken und DIE Ausländer Gedanken zu machen. Als totalassimilierter „Türkenjunge“, ein Paradebeispiel für Super- bzw. Überintegration, bin ich lange Zeit ratlos gewesen, was diese „Deutschen“ angeht: viele von ihnen sind wunderbar, ich denke gar, dass es die Mehrheit ist. Deutsche, die mit Fahnen und Hymnen und Chauvinismus nichts mehr anfangen können, die für Humanismus, Anerkennung anderer Kulturen und eine Abkehr vom internationalen Wirtschaftskrieg des Westens stehen. Ohne dass sie auf den Namen Robert Habeck oder Annalena Baerbock hören, ein Ruprecht Polenz oder ein Fritz Schramma tun es auch. Carsten Linnemann wiederum reiht sich ein in die Gilde der skurrilen Sommerlochpolitiker, die schon einmal ein Bad im Populismus nehmen.
Und da gibt es dann Deutsche, denen ich mich sozial verbunden fühle, weil diese so phantastisch reiche deutsche Gesellschaft, die ihren Reichtum, wie viele andere in Europa, zu einem erklecklichen Anteil durch Ausbeutung im Inneren wie gegenüber anderen Gesellschaften angehäuft hat, sie so chic und bequem auf dem Abstellgleis ausgemustert hat oder ihnen gar übel mitspielt. Aber das tritt auch auf die USA zu, dem Role Model der "Freien Welt". Dass dieser Reichtum im Grunde genommen auf den Konten weniger zehntausend Menschen sinnlos zusammenklumpt, sei hier kurz erwähnt.
Unter jenen von mir angesprochenen Leuten gibt es also jene, die zurecht nicht verstehen können, dass man jahrelang gepredigt hat: Es gibt nichts zu verteilen, liebe Bürger. Und überhaupt, gute deutsche Tugend: den Gürtel enger schnallen. Und die dann erleben müssen, wie ihnen erzählt wurde, dass die "Integration" (Was ist das genau?) geflüchteter Menschen nun doch Geld kosten wird, das bis gestern „politisch“ nicht vorhanden war. Die dagegen, nach vielen Jahren bleierner Politik-Leere, in denen Deutschland bis zur Sedierung verwaltet worden ist, immerhin auf die Straße gehen, auch und gerade weil das Kreuz bei der "linkeren" der beiden Volksparteien bedeuten kann, von dieser noch schärfere Sozialgesetze als Dank formuliert zu bekommen, als es sich die andere Volkspartei erlauben würde.
Und da sind die Deutschen, die nun ausleben, was sie schon immer gedacht und gebraucht haben, um mental zu überleben: das andere Menschen weniger wert sind als man selbst. Und die nun den Mut fassen, das überall kundzutun, wo sie sich in guter Gesellschaft wähnen. Im Grunde genommen tun sie dabei lediglich etwas, was überall in Europa ebenfalls zu beobachten ist: ihrem Fremdenhass und Rassismus frönen - andere erniedrigen, um selbst etwas Erhöhung zu erleben. Doch die Volksgemeinschaft (beim Rudelgucken) ist nur ein Mythos. Grim 104 und Testo haben es prägnant veranschaulicht, als sie einst rappten: "Nach dem Labelsigning das brennende Herz der Unterschicht? Entscheide dich du Spasti! Du bist nichts außer deutsch. Besitzt nichts außer Deutsch-Sein, ich bin wirklich enttäuscht!" (Aus: "Dreck Scheiße Pisse", 2013)
Zu beobachten sind also weltweite, kategorische Verteilungskonflikte, Konflikte um die Verteilung von Zukunft und Würde, wie sie im 2017 erschienenen Essay "Hyperkultur versus Kulturessenzialismus" sehr eloquent dargelegt worden sind. Das Potemkinsche Dorf stürzt zusammen und es kommen Personen zum Vorschein, die als ehemalige Verfassungsschutzpräsidenten und dergleichen fungierten.
In der Süddeutschen Zeitung (Printausgabe vom 26. Juli 2019) begab sich Karl-Markus Gauss mit seinem Artikel "Sündenböcke" auf eine fiktive Reise in eine Stadt ohne Migranten. Mich hat sein Meinungsartikel an eine Aufstellung erinnert, die ich vor drei Jahren, als emotionale Reaktion auf den ganzen Hass und Verfolgungswahn der "Silvesternacht von Köln" vorgenommen habe. Sie ist wahrscheinlich und wie bereits erwähnt an dem einen oder anderen Punkt ungenau und auch nicht komplett und wahrscheinlich auch ungerecht. Aber sie war Ausdruck einer tiefen Entfremdung. Drei Jahre später lösen Verlautbarungen wie jene von Carsten Linnemann (ein Mann, der offenbar sehr viele Eltern kennt, die genug Geld für die Privatschule aufwenden können und wollen, was ihnen gegönnt sei) bei mir kaum noch Wallung aus, zu klar erscheint mir, dass der autoritäre Grundton globaler Natur ist und Maßnahmen wie Zwangsunterricht (oder in einem anderen berühmten Fall von Profilierungssucht Zwangsgelder bei Impfverweigerung) nach der Minderheit irgendwann auf alle ausgerollt werden. Doch dann ist es zu spät, dann wird man merken, dass man Sicherheit und Autoritarismus nicht essen kann.
Um es also mal ganz konkret zu machen, was wäre denn ohne Ausländer los oder nicht in diesem wunderbaren Lande.
1. Ohne Ausländer...
wäre Deutschland heute ein Land mit circa 55 bis 60 Millionen Menschen (lassen wir es mit einer bayerischen Aufhorstungs-Initiative mal 65 Millionen sein, geschenkt). Wie leer dieses Land doch wäre. Deutschland wäre im westeuropäischen Konzert nur noch eine von vielen Nationen dieser Einwohnerklasse, in etwa gleichauf mit Frankreich, Großbritannien oder Italien. Der Umsatzvorteil durch einen starken Binnenmarkt wäre nicht mehr vorhanden, Deutschland wäre noch mehr auf den Export angewiesen.
2. Ohne Ausländer...
würde die gesamte deutsche Volkswirtschaft heute erheblich weniger Umsatz generieren. Siehe oben. Es müsste nicht nur mit weniger Konsumenten auskommen, sondern auch mit vielen Millionen weniger Arbeitskräften.
3. Ohne Ausländer...
würden einige Millionen bescheidene bis als schäbig anzusehende Wohnungen in nicht so attraktiven Lagen, sowohl in Großstädten als auch im ländlichen Raum, schlicht leer stehen. Hunderttausende Vermieter, vermögensgenealogisch mutmaßlich größtenteils deutscher Abstammung, müssten horrende Mietausfälle beklagen oder ihre Politikerlobby dazu bringen, noch mehr deutsche Mieter als heute schon in ihre bemitleidenswerten Wohnungen zu zwingen - oder die Totalverluste dem Steuerzahler aufbürden dürfen.
4. Ohne Ausländer...
müssten Arbeitgeber für viele schlechte und schlecht bezahlte, gefährliche und teilweise illegale Jobs deutsche Arbeitnehmer gewinnen. Es würde der politische Druck weiter steigen, viel mehr Deutsche als heute schon zu schlechter Arbeit zu zwingen. Denn es ist nicht anzunehmen, dass die Unterschicht sich bewusst wird, dass ihre Position stärker ist als die von Jobcentern und pöbelnden Arbeitsmarktpolitikern. Schließlich wurde der Bevölkerung jahrelang eingehämmert: „Sozial ist, was Arbeit schafft“, (frei nach Hitlers Kampfgefährten Alfred Hugenberg). Und dass immer irgendwie Ausländer schuld sind an allem.
5. Ohne Ausländer...
würde wie auf dem Tablett präsent werden, dass auch Deutsche Verbrechen begehen. Sie würden sogar bemerken, dass die meisten Straftaten im Land weiterhin von Deutschen begangen werden. Sie müssten wahrnehmen, dass insbesondere Vergehen, in denen es um sehr viel Geld geht, Millionen oder Milliarden Euro, von Bio-Inländern begangen werden, sei es durch Vorstände von Autokonzernen oder Banken oder Versicherungen. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft müssten mit den Ursachen und Folgen von Gewalt, Ausbeutung und Verbrechen innerhalb der indigenen Bevölkerung auseinandersetzen. Die Einheimischen müssten sich die Frage stellen, inwieweit das sozio-ökonomische Gesellschaftsmodell eventuell Gewalt und Verbrechen fördert.
6. Ohne Ausländer...
hätten viele Beamte und Angestellte in der Verwaltung, die sich mit Prozeduren beschäftigen, die alleine durch die Existenz von Nicht-Deutschen ausgelöst werden, keine Arbeit mehr. Sie würden entweder entlassen, vorzeitig in den Ruhestand geschickt werden oder versetzt.
7. Ohne Ausländer...
würde in Teilen Deutschlands die ärztliche Versorgung zusammenbrechen. Man kann fragen, ob es nicht manchmal besser ist, eine Sache von allein auskurieren zu lassen. Man kann hierüber Aufklärung betreiben - und zum Beispiel Zweitmeinungsverfahren stärken. Aber darüber entscheidet jeder Kranke besser für sich selbst. Gut, wenn dann überhaupt noch ein Arzt zur Stelle ist.
8. Ohne Ausländer...
fehlten zigtausende Arbeitskräfte in der Pflege. Viel mehr Deutsche als bislang müssten als Pflegekräfte in Krankenhaus und Pflegeheim tätig werden. Wenn es ihnen nicht vergönnt ist oder gelingt, dass die Politik die Gehälter von Pflegekräften deutlich anhebt, müssten sie dies zu tendenziell prekären Löhnen tun. Oder die Versichertengemeinschaft müsste höhere Beiträge zahlen, um entsprechend attraktive Gehälter zu finanzieren.
9. Ohne Ausländer...
müssten nach der Ideologie der „schwarzen Null“ viele Kindergärten und Schulen landauf, landab schließen. Man könnte zwar eine Bildungspolitik verfolgen, in der sich Erzieher und Lehrer nicht mehr um 30, sondern nur noch um sieben bis zehn Kinder kümmern müssen. Aber das ist angesichts der neoliberalen Logik in unserem Land, in dem „strukturelles, ideologisches Versagen der Bildungspolitik“ den Kindern in die Schuhe geschoben wird, eher nicht zu erwarten.
10. Ohne Ausländer...
stünden viele Läden in heute belebten Einkaufsstraßen oder heimeligen Veedeln leer. Ohne sie wären zum Beispiel viele Restaurants, Spätis, Kioske und Büdchen verweist und müssten Deutsche abends auf ihr Bier verzichten. Dabei kommen viele ausländische Selbstständigen ihren deutschen Kunden sehr entgegen und beuten sich aus, indem sie in ihren Preisen keine Rücklage für die Rente einplanen. Übrigens: Restaurants, Spätis, Kioske und Büdchen erfüllen auch eine Sicherheitsfunktion, sind sie doch noch offen, wenn das normale Leben schon heruntergefahren ist.
11. Ohne Ausländer...
würden eigentlich unveräußerbare Häuser, Grundstücke, Altmöbel, alte Autos und anderes Second-Hand keine Käufer mehr finden. Autochthone Eigentümer müssten diese Dinge dann gleich in den Müll schmeißen oder als Totalverlust abschreiben. Oder sie finden doch noch einen anderen Deutschen, der ihnen den Beinahe-Schrott abnimmt.
12. Ohne Ausländer...
müssten Deutsche viel, viel länger auf Taxis warten oder selbst zu prekären Konditionen Taxi fahren. Viele Ausländer sind bereit, sich selbst auszubeuten, um wenigstens überhaupt eine Arbeit zu haben.
13. Ohne Ausländer...
gäbe es logischerweise nur noch Deutsche. Und diese Deutschen müssten sich plötzlich untereinander verständigen, wie deutsch man sein muss, um „wirklich“ deutsch zu sein. Alles andere würde bedeuten, aneinander vorbei zu leben. Protagonisten des Völkischen könnten damit nicht zufrieden sein. Sie sind darauf angewiesen, sich in der Volksmasse zu spüren und gegen das Außen, das Fremde abzugrenzen. Doch gegen wen? Deutschsein ist auch eine Frage des Wohnortes, des Alters, der Bildung, der politischen, religiösen, humanistischen, sexuellen Haltung und Neigung. Wer übernimmt die Rolle des Sündenbocks in einem ausländerfreien Deutschland? Die Unterschicht böte sich geradezu an. Wie auch immer: Ausländer senken die Anforderungen ans Deutschsein ganz erheblich.
14. Ohne Ausländer...
fänden viele Deutsche schlicht keinen Partner oder eine Partnerin mehr, mit dem sie ihr Leben teilen könnten - oder den sie gar heiraten könnten. Und ohne Ausländer würden viele Millionen Deutsche ihren Partner oder ihre Partnerin verlieren. Viele Deutsche würden lieb gewonnene Freunde und Freundinnen verlieren und müssten sich neue Freunde und Partner suchen. Womöglich solche, die nun ganz doll glücklich darüber sind, dass diese Ausländer endlich nicht mehr da sind. Gewissenskonflikte dürften da vorprogrammiert sein.
Es gäbe sicherlich noch einige andere Dinge, die ohne Ausländer anders wären. Für die BILD-„Zeitung“ jedenfalls wäre es ein empfindlicher Schlag, wenn selbst die Pseudo-Aufmacher fortan mit Deutschen bestritten werden müssten. Es bleibt aber immer noch die Beschwerde getreu dem Motto: XYZ funktioniert nicht / ist viel zu teuer / viel zu billig / nicht zu haben / viel zu schlecht / viel zu oft oder zu wenig / langweilig, WEIL die Ausländer verdammt noch eins nicht mehr da sind. Aber im Urlaub: ÜBERALL Ausländer!
Viele Menschen, die aus dem Ausland hierher gekommen sind, spüren eine große Dankbarkeit für das Leben, das sie hier in Freiheit aufbauen konnten. Das Leben könnte ein großes Geben und Nehmen sein.
Arbeiten wir gemeinsam daran.
Comments